BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Sozial-konstruktivistische Marginalien (5): ‹Soziale Konstruktivisten› sind doch einfach nur verkappte ‹Behavioristen›!» von Albertine Devilder
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Einführung

Die Zeit der großen Entwürfe und Erzählungen ist vorbei (siehe Arbeitspapier Nr. 11. Die Monothematik des entfesselten finalen Kapitalismus hat blühende Denklandschaften verödet. Heute muß man in Alltag und Wissenschaft und Theorie und Praxis sehen, wo man bleibt, und das heißt, man muß Herausforderungen annehmen, sich am Markt durchsetzen, den ‹Gürtel enger schnallen› und allzeit gute Laune haben. Somit könnten wir den im Titel dieses Traktätchens genannten Einwurf oder Vorwurf, der gerne von Zeitgenossen gemacht wird, die sich noch an ein Gestern erinnern, ignorieren und zurück fragen, wen denn heute noch so hohe reine Schulen wie Behaviorismus, Sozialer Konstruktivismus oder - von uns aus auch - Psychoanalyse interessieren? Nun, wen? Studierende? Praktiker? Ach nein, reine Lehren und große Gedankengebäude sind vom Dauer-Hurrikan der Postmoderne weg gepustet worden. In Alltag und Wissenschaft, in Theorie und Praxis finden wir derzeit eine Collage, einen frechen Multi-Mix von Ansätzen, Vorgefaßtheiten und Methoden, die sich durchaus widersprechen können. Aber das macht nichts. Wichtiger ist, daß wir heute alle ganz offen, alle ganz neugierig auf Neues und alle Tag für Tag damit beschäftigt sind, uns am Markt zu positionieren. Alle? Wirklich alle? Nein, eine kleine Gruppe von ‹Aus-der-Zeit-Gefallenen› freut sich, in großen Erzählungen mäandern und herumspazieren und große Denkgebäude vergleichen zu dürfen? Wozu? Schaffen wir uns so den nötigen ‹Support›, um am ‹Wissenschaftsmarkt› erfolgreich sein zu können? Ach nein, Märkte interessieren uns nicht. Wir sind fasziniert von dem, was bleiben wird, wenn es schon längst keine Märkte mehr gibt.

Was interessiert uns? Nun, uns begeistert, was Leute so tun; was Leute so in den verschiedenen sozialen Räumen, Kontexten und Situationen tun. Und warum sie es immer wieder tun. Wir sind also enthusiastische Sammlerinnen von Lebensäußerungen und Texten. Ja, wir streben ganz wild nach möglichst vollständigen Lebensäußerungs-Repertoires. Im Arbeitspapier Nr. 5 zum Beispiel haben wir beinahe alles Sagbare aufgelistet, das uns in sogenannten Diskussionen begegnen kann. Ist das nicht toll? Im Arbeitspapier Nr. 8 haben wir beinahe alle Sagbarkeiten zusammen gestellt, die sich Leute in einer ‹Zweierbeziehung› um die Ohren hauen können. Und im Arbeitspapier Nr. 9 haben wir beinahe alle Texte aufgeführt, die Machthaber aussprechen können, um sich ‹Macht› einzuräumen. Ist das nicht großartig: Beinahe erschöpfende Listen von verbalen Lebensäußerungen in drei wichtigen Bereichen unseres So-Seins? Doch, und wir sind zu Recht stolz darauf.


Der Vorwurf

Da wir als ‹Soziale Konstruktivisten› im Rahmen von Wirklichkeitsprüfungen (siehe dazu Arbeitspapier Nr. 10) möglichst genau beobachten und beschreiben, was in welchem Lebenskontext welchen sozialen Raumes sagbar ist und was nicht, kann ein wenig nachdenklicher Mensch, der den ‹Behaviorismus› nicht mag und sich lieber an kognitiven oder emotionalen ‹Gestalten› orientiert, schon auf den Gedanken kommen, wir würden der großen Erzählung des Behaviorismus folgen. Tun wir aber nicht. Hier sind die Gründe:

Im engeren Sinn lautet der eben skizzierte Vorwurf, daß unsere Orientierung an gesprochenen Texten und am Diskurs eine Orientierung am bar Beobachtbaren, Äußerlichen sei und daß das Innere der Menschen, das Nicht-Beobachtbare daher negiert werde. Wir blieben mit unserer Methode der Wirklichkeitsprüfung ‹außen vor›, so die entsprechende Rede. Zugespitzt heißt das: Wer nicht Kognitivist ist und zu allem Sichtbaren in den Lebensäußerungen von Menschen hurtig psychologistische Kategorien als ‹Erklärung› erfindet, muß Behaviorist sein. Schauen wir uns das an:

Während sowohl Behavioristen als auch Kognitivisten sich für psychische Prozesse interessieren (die einen von außen, die anderen von innen), befaßt der soziale Konstruktivismus sich mit sozialer Praxis. Der Gegenstand des Interesses ist demnach ein ganz anderer. Die Frage nach der psychischen Black-Box, die für Behavioristen fest verschlossen ist und für Kognitivisten sperrangelweit offen steht, stellt sich für uns gar nicht: Im sozialen Konstruktivismus gibt es keine Black-Box. Statt dessen - aber das ist ja eine ganz andere, eine wissenssoziologische Geschichte - würde uns interessieren, wie und in welcher Weise und in welchen sozialen Räumen über eine sogenannte Black-Box so oder so geredet wird. Bei uns verschiebt sich also die Perspektive von einer ontologisch begründeten Entität des Psychischen auf die textuelle Fabrikation von Entitäten des Psychischen durch sprachliche Praxis.

Ein wesentlicher Kern des Vorwurfs, Soziale Konstruktivisten seien verkappte Behavioristen, ergibt sich aus der seltsamen Dichotomie von ‹Innen› und ‹Außen›. Daß wir vom ‹Außen› (dem sozialen Diskurs) angetan sind, heißt allerdings nicht, daß wir dem ‹Innen› abhold wären. Ganz im Gegenteil. Wir sagen ja: Das Innere ist das Äußere, und das Äußere ist das Innere. Das aber dürfte für normale, zweiwertig rechtsdrehend denkende Wissenschaftler kaum mehr zu verstehen sein.

Aus kognitivistischer Sicht hört sich Sozialer Konstruktivismus vermutlich so an, als sei die Person vollständig sozial determiniert. Daß klingt dann freilich sehr behavioristisch. Im Unterschied dazu haben wir aber ein ausdrückliches Interesse an Veränderung, wenn wir auch sagen, daß das Veränderungspotential nicht im vereinzelten Individuum, sondern im sozialen Diskurs liegt. Diese Delegation des Inneren an die Zuständigkeiten der Kollektive impliziert nicht, daß wir auf das Sprechen über mentale Prozesse und Konzepte einfach verzichten. Allerdings meinen wir nicht, das den Metaphern des Inneren irgendwas Eigentliches entspricht, d.h. wir sind in dieser Hinsicht durchaus kognitivistisch orientiert, wenn auch in keinster Weise essentialistisch. Wir glauben halt nicht, daß es das, wovon im Reden vom Inneren berichtet wird, tatsächlich gibt. Daß davon berichtet wird, interessiert uns allerdings sehr.

Der Vorwurf, antimentalistisch und damit behavioristisch orientiert zu sein impliziert nebenbei eine bestimmte Abwertung unserer Position, denn schließlich ist der reine Behaviorismus ja schon ein bisserl älter und angeblich mit der kognitiven Wende so ziemlich aus der Mode gekommen. Der Vorwurf schließt also ein, daß wir mit unserem theoretischen Streben irgendwie ‹veraltet› seien. Das brauchen wir als unbedingte Avantgarde nicht zu kommentieren. Genau genommen sind wir auch gar nicht antimentalistisch, sondern ‹hypermentalistisch›!. Wenn man das ‹mentale Innere› nämlich mit dem sprachlichen Äußeren identifiziert und einsieht, daß Sprache unsere ontologische Allsubstanz ist, so kann man (und frau sowieso) leichthin sagen: Alles ist sprachlich, ergo ist alles mental!

Wie schlecht wir uns als Behavioristen machen, läßt sich leicht an dessen epistemologischer Ungebrochenheit ersehen: Der reine Behaviorismus ist ja naivster Realismus, der das Innere nur deshalb meidet, weil er es mit bloßem Begaffen nicht erkennen kann. Wir würden dagegen sagen, daß es nicht darauf ankommt, ob man in die Menschen hineinschauen, sondern ob man so über sie sprechen kann, als könnte man hineinschauen. Und das funktioniert ja bekanntlich ziemlich gut. Es geht uns bei dem Befaßtsein mit Sprache also nicht um öde Denotation, sondern um die Regeln des Gebrauchs von Sprache. Und wir hoffen, daß Wittgenstein uns unter seinem Grabstein sachte zu lächelt.


Schluß

Wie wäre es mit einem kleinen sozial-konstruktivistischen Credo? Oh, sie bitten darum, lieber Leser und liebe Leserin? Ok, hier ist es:

Soziale Konstruktivisten gucken im Rahmen dessen, was sie ‹Wirklichkeitsprüfung› nennen, genau hin und beschreiben Spielarten des Verhaltens und Sprachspiele in Kontexten aller Art. Dann jedoch gehen sie weiter, gehen über das Aktuelle, Konkrete, ‹Individuelle› einer Lebensäußerung hinaus und verweisen auf das Prinzipielle, das Selbstverständliche, das Selbstredende, das je sozial Erwartbare, welches eine Lebensäußerung, einen Text, in einem sozialen Raum führt, lenkt und leitet. Und trefflich spekulieren sie dann anhand von beobachteten Lebensäußerungen und Texten über Ethik und Philosophie, über Substrate und kulturelle Mythen, die die Lebensäußerungen und Texte speisen und die zu spezifischen Textballungen - man kann sie auch Personen nennen - führen. Soziale Konstruktivisten suchen in der Beschreibung konkreter Lebensäußerungen also das Allgemeine, das Allgemeingültige, die (kulturelle) Geschichte, die Parabel, die Struktur, den Mythos hinter den Texten, und dabei gehen sie mutwillig über die sich entäußernden Personen hinaus. Und ist genau das nicht - Wissenschaft?



Kommentare:

2. Dezember 2005: Ein Kommentar von Christian

Sehr interessiert las ich nun die Kommentare zum Vorwurf «Soziale Konstruktivisten sind doch einfach nur verkappte Behavioristen». In diesem Text geht es um das Thema, bei dem ich wohl mit dem sozialen Konstruktivismus der BOAG die grössten Schwierigkeiten habe. Nicht, dass ich euch ‹Behaviouristen› schelten wollte - warum die BOAG so viel Wert auf die Beobachtung und Protokollierung sprachlicher Diskurse legt, leuchtet mir sehr ein.

Nun schreibt Albertine: "Das Innere ist das Äussere und das Äussere ist das Innere." Und: "Wir glauben nicht, dass es das, wovon im Reden vom Inneren berichtet wird, tatsächlich gibt."

Wenn ich über mich selber nachdenke, komme ich zu folgender Vorstellung:

Ich habe viele Eindrücke, seien es Körpergefühle, optische, akustische Empfindungen oder Empfindungen irgendwelcher anderer Sinne, die ich nicht kommuniziere, und ich sehe mich nicht in der Lage, sie sprachlich angemessen wiederzugeben. Wenn ich einfach nur versuche, irgendetwas in meinem Blickfeld genau zu betrachten, sehe ich mich überflutet von unendlich komplexen Eindrücken, welche sprachlich zu fassen mich komplett überfordert, zum Einen wegen der Menge, zum anderen wegen des Fehlens des geeigneten Vokabulars. Zum Beispiel habe ich, mangels spezieller Ausbildung oder Beschäftigung in diesem Gebiet, nur ein sehr eingeschränktes Vokabular für Farben und bin durchaus in der Lage, Farbunterscheidungen zu sehen. Soll ich sie jedoch in Sprache fassen, reicht mein Vokabular nicht aus. Genauso verhält es sich mit für andere Menschen ("aussen"?) nicht direkt zugänglichen Empfindungen wie z.B. Magenschmerzen. Es ist mir unmöglich, Magenschmerzen, wenn ich sie habe, präzise zu beschreiben und von sich anders anfühlenden Magenschmerzen sprachlich zu unterscheiden (ich mache derartige Versuche oft genug, da die Homöopathie meine bevorzugte medizinische Richtung ist, und sie lebt von präziser Beschreibung - also strenge ich mich hin und wieder an und bin immer wieder sehr unbefriedigt - die Sprache ist meinen Empfindungen nicht gewachsen). In meinen Empfindungen ("innen"?) kann ich diese Unterschiede jedoch machen. Ich sehe mich nicht in der Lage, sie irgendjemandem mitzuteilen.

Jetzt gibt es andere Kanäle der Kommunikation als Sprache - z.B. meine Gestik und Mimik. Hier lässt mich Albertines Text im Unklaren: Wie steht sie zu nichtsprachlichen Ausdrucksformen? Meine Vorstellung ist, dass diese Ausdrucksformen als Mittel der Kommunikation zwar wichtig sind, sich aber der sprachlichen Analyse entziehen (man bräuchte sie nicht, wenn es nicht so wäre). Die Textanalyse hat also enge Grenzen, nicht alles, was kommuniziert wird, kann in textlicher Analyse gefasst werden, sondern eben nur Texte, und Texte sind nicht alles. Selbst nichtsprachliche Ausdrucksformen eingeschlossen ist es mir dennoch aber nicht möglich, zu kommunizieren, wie sich meine präzisen Magenschmerzen anfühlen. Sie sind eben "innen", jeder Ausdruck wäre etwas anderes (und wie ein Kommunikationspartner diese Ausdrük-ke dann deutet, ist noch wieder eine andere Frage).

Der Fehler der kognitiven Psychologie aus meiner Sicht ist nun nicht, ein "Innen" zu postulieren - ich hoffe, eben erklärt zu haben, woraus eine sinnvolle Konstruktion des "Innen" bestehen könnte, welches nicht gleich dem "Aussen" ist - sondern die Leute glauben, sie könnten das Nichtsprachliche in Sprache fassen. Und das muss man, will man etwas wissenschaftlich analysieren bzw. "in den Griff bekommen".

Daher denke ich, wenn man sprachlich analysieren will (was die kognitive Psychologie offenbar auch will), gefällt mir der Ansatz der BOAG am besten, auf beobachtbare Sprachäusserungen zurückzugreifen. Dann ist die Sprache in ihrem legitimen Element. Ich würde aber gerne einen grundsätzlichen Vorbehalt immer als Warnschild bei derartigen Analysen anbringen: Achtung! Es geht hier nur um das, was Sprache fassen kann - und es gibt unendlich viel, das Sprache nicht angemessen fassen kann.

Ich denke, ich füge dem sozialen Konstruktivismus, den ich ja sehr schätze, für mich eine Art Bescheidenheit hinzu: Das, worüber wir nicht reden können, (und worüber wir deswegen oft besser schweigen) ist trotzdem da! (Und insofern breche ich das Schweigen darüber, als dass ich darauf wenigstens hinweisen möchte.) Es kann sein, dass diese Bescheidenheit bereits irgendwo in den Weiten des Bochumer Ideengestrüpps verborgen und von mir übersehen worden ist. Wenn das so ist, um so besser.

Übrigens stelle ich mir vor, dass dieses Thema genau im Kern der Unterschiede zwischen dem sozialen Konstruktionismus und Glasersfelds radikalen Konstruktivismus besteht - das "Innere" ist bei Glasersfeld stark und scheint im sozialen Konstruktionismus zu fehlen bzw. mit dem Sozialen identifiziert zu werden; die Bedeutung des Sozialen für unsere Konstruktion der eigenen Realitäten ist bei Gergen und der BOAG stark und kommt bei Glasersfeld zu kurz. Ich aber will beides!

Allerbeste Grüsse aus London,

von Christian

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5. Dezember 2005: Ein Kommentar von Albertine

Lieber Christian,

vielen Dank für Deinen schönen Kommentar. Du beschreibst unser großes Dilemma ganz genau: Wir sind nicht in der Lage, selbst ‹einfache› Wahrnehmungen und Empfindungen einigermaßen in Worte zu fassen. Erinnerst Du Dich, wie Oswald Wiener in seinem intergalaktischen ‹Roman› «Die Verbesserung von Mitteleuropa» sich ab Seite XLIII abquält, sprachlich einer einfachen Wahrnehmung folgen zu können? Tja, das klappt nicht. Wir versuchen es immer wieder, aber wir scheitern.

Maurice Maeterlinck hat das einmal so wunderbar ausgedrückt, daß Robert Musil diese Sentenz als Motto für seine 1906 erschienene Erzählung ‹Die Verwirrungen des Zöglings Törless› wählte: «Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an den bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.»

Noch einmal 1906: Auch Fritz Mauthner zitiert in der zweiten Auflage seiner «Beiträge zu einer Kritik der Sprache» Maurice Maeterlinck, und wieder aus dessen kleinem Aufsatz über das Schweigen: «Man muß nicht glauben, daß die Sprache jemals der wirklichen Mitteilung zwischen den Wesen diene. Die Worte können die Seele nur in der gleichen Weise vertreten, wie z.B. eine Ziffer im Kataloge ein Bild bezeichnet; sobald wir uns aber wirklich etwas zu sagen haben, sind wir gezwungen zu schweigen.»

Was tun? Wie behelfen wir uns? Nun ja, wir sprechen immer weiter. Wir schaffen es nicht, zu schweigen. Das ist das eine.

Das andere ist die Frage, ob wir die Wahrnehmungen und Empfindungen, die sich mit unserem ‹Inneren› beschäftigen, ‹tatsächlich› haben oder ob sie uns aus Mythen unseres kommunalen Raums und aus der lokalen Sprache selbst nahe gelegt werden. Du bestehst darauf, sie zu haben, du möchtest - wie Maeterlinck - glauben, daß «der Schatz im Finstern unverändert schimmert.» Ich habe in meinem Text gesagt: «Wir glauben halt nicht, daß es das, wovon im Reden vom Inneren berichtet wird, tatsächlich gibt. Daß davon berichtet wird, interessiert uns allerdings sehr.» Damit meine ich nicht, daß wir nicht irgendwelche Empfindungen haben könnten. Darüber kann ich eben nichts sagen. Meine Neugier wird allerdings geweckt, wenn Menschen irgendwelche Sprachfiguren ihres sozialen Raumes aufgreifen und diese als Abbild ihres Inneren ausgeben. Dann wird es spannend, dann zeigt sich, daß das Innere das Äußere ist.

Du fragst, wie ich zu nichtsprachlichen Ausdrucksformen stehe. Nun, da mache ich es mir sehr einfach, und behaupte, daß Gesten- und Mimikfiguren mindestens genau so ‹gute› Kommunikationsmittel sind wie die ‹Sprache› selbst. Soziale Räume definieren auch eine ‹nonverbale› Sprache der Gesten und Gesichtsausdrücke. Das ist insbesondere bei Mitmenschen zu sehen, die ihrer Muttersprache nicht so mächtig sind, die sich nicht so gut auf diese verlassen können. Kurz: ob Wort oder Geste oder Gesichtsausdruck, ich nenne es Sprache.

Doch ich möchte zum Schluß noch einmal ‹das andere› aufgreifen: Du sagst: «Das, worüber wir nicht reden können, ist trotzdem da!» Ja, das kann sein. Und als Skeptikerin sage ich, es wäre schön, wenn es so wäre. Ich vermute nur, daß wir in den meisten Fällen (in allen?) so etwas wie eine Aktivierung oder die Anbahnung eines Schmerzes spüren, und dann aus unserem lokalen Sprachkatalog irgendetwas wählen, welches wir im folgenden dann mit der Aktivierung verwechseln. Ossi Wiener sagt es so: «das wesen eines dings ist so die pathetische fixierung einer willkürlichen d.h. zweckmässigen auswahl aus seinen sprachlichen konstellationen.» Das Wort ‹pathetisch› paßt wunderschön zu Aussagen über unser Inneres, und das Wort ‹zweckmäßig› faßt in begnadeter Weise das zusammen, was der ‹Soziale Konstruktivismus› eigentlich will.

Liebe Grüße von Albertine

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8. Dezember 2005: Ein Kommentar von Christian

Liebe Albertine,

herzlichen Dank für die Antwort. Da steht vieles Schöne und Einleuchtende drin und mit Musil und Mauthner kann man mich sowieso immer erfreuen.

Ich wollte nichts über "Tatsächlichkeit" gesagt haben - "Tatsächlichkeit" interessiert mich nicht; was keiner beobachten kann, kann eben keiner beobachten. Warum dann überhaupt darüber sprechen (und sei es nur, um zu behaupten, dass man glaube, Tatsächlichkeit gäbe es nicht)?

Ich meinte auch nicht glitzernde Schätze im allzu Finsteren, sondern meine ganz konkreten Sinneseindrücke und -inhalte, die, wie "tatsächlich" auch immer, jedenfalls *für mich* da (nämlich von meinem Sinnesapparat konstruiert), in meinem Bewusstsein klar, und trotzdem für die Sprache nicht fassbar sind. Da ich in dem Sinne auf dem Schatz sitze, ohne viele finstere Abgründe überwinden zu müssen, muss ich mich weiter nicht stören daran, dass die Sprache ihm nur Glasscherben entreisst - es sei denn, ich will mich mitteilen. Dann kommen Albertines schöne Zitate ins Spiel. Das will ich aber nicht unbedingt.

Zusammen finden wir vielleicht, wenn ich feststelle, dass die sozialen Räume und die Sprache das, was ich da zu sehen glaube (bzw. sehe), ganz offensichtlich beeinflussen und verändern. Das finde ich spannend, und wenn ich versuche, das zu beobachten und zu kommunizieren, bin ich ja dann vielleicht doch sehr nah an dem, wovon Albertine schreibt.

Beste Grüsse,
Christian



Erstellt: 25. Oktober 2005 - letzte Überarbeitung: 8. Dezember 2005
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