BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Möglichkeiten: Eine Abschweifung»
von Helmut Hansen
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Prolog

Beinahe täglich fragt sich ein Ökonom, genau so wie jeder Kulturinsasse mit einem ‹gesunden Menschenverstand›: Was bedeutet die Welt für mich? Welche Möglichkeiten habe ich? Was wirft das Leben für mich ab? Genauer noch: Was kann ich aus dieser Welt und diesem Leben für mich heraus schlagen? Die Sinnfrage, falls es je eine gab, ist beantwortet. Die ethische Frage auch. Es geht allein darum, die Wirklichkeit zu erkennen und sich aus dieser Erkenntnis Vorteile zu verschaffen.

Und beinahe täglich fragt sich ein Philosoph, oder ein Künstler, Kulturphysiognom, Konstruktivist, wie kaum ein Kulturinsasse mit einem ‹gesunden Menschenverstand›: Was bedeutet die Welt an sich? Welche Möglichkeiten hat sie? Was ist das Leben an sich? Genauer noch: Welchen Sinn kann ich in dieser Welt und in diesem Leben finden? Die Sinnfrage, die sich immer stellt, ist unbeantwortet. Die ethische Frage bedarf der Erörterung. Immer wieder.

Die Konsequenzen für den Ökonom – und den ‹gesunden Menschenverstand› – liegen auf der Hand: Mit dem Rüstzeug des ‹Naiven Realismus› an die Welt heranzugehen, die Wirklichkeit für ‹wirklich› zu halten – und zu handeln, also: Was tun!

Die Konsequenzen für den Philosophen (nebst Geistesverwandten) liegen – im Gegensatz zum ‹gesunden Menschenverstand› – auf der Hand: Mit dem Rüstzeug des ‹Skeptizismus› an die Welt heranzugehen, die Wirklichkeit für unwirklich (ergo ‹konstruiert›) zu halten – und sich zu fragen: Was tun?

Während der erste Weg von fast allen Kulturinsassen als der breitere, der vernünftigere und nahe liegendere Weg begangen wird, erscheint der zweite Weg, als der schmalere, den meisten Menschen wenig gangbar, um es freundlich auszudrücken.

Was ist nun mit dieser ‹Gangbarkeit›? Dass wir den ersten Weg nicht diskurrieren erscheint klar, da wir ihn nicht gehen möchten. Aber was bleibt uns für unser Leben, für unseren Ethos, wenn wir den schmaleren Weg gehen? Eröffnen sich beim zweiten Weg Pfade und Möglichkeiten, die uns erfreuen könnten? Oder ist die Melancholie unser ständiger Begleiter?

Schauen wir uns drei Gedanken an. Drei Variationen über den Begriff der ‹Möglichkeit›.


Heinz von Foerster

In unserem Arbeitspapier Nr. 7 haben wir verschiedene Dinosaurier des Konstruktivismus vorgestellt, darunter eben auch Heinz von Foerster (1911 - 2002). Er ist immer etwas eigenwillige Wege gegangen. Und er hat sich stets für die ethischen Perspektiven interessiert, die sich ergeben, sollte man sich die Grundgedanken eines (radikalen oder sozialen) Konstruktivismus zu eigen machen. Viel zitiert wird dieser Satz:
«Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst!» [1] Verschiedene Quellen. Unter anderem in: Heinz von Foerster (1997): Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Herausgegeben von Siegfried J. Schmidt. Frankfurt: Suhrkamp.
Wer in diesem Moment diesen Satz in eine Suchmaschine im Internet eingibt, erhält etwa 1.640.000 Ergebnisse. Wir können getrost sagen, daß dieser Satz in allen nur denkbaren Kontexten gesprochen und verwurstet wird, auch in Kontexten, die uns nicht gefallen würden. Doch das interessiert uns hier nicht.

Versuchen wir, zu verstehen, was damit gemeint sein könnte. Und nahe liegend erscheint es, Heinz von Foerster selbst zu befragen. In einem Interview mit Bernhard Pörksen sagt er dies:
«Gemeint ist, dass man die Aktivitäten eines anderen nicht einschränken soll, sondern dass es gut wäre, sich auf eine Weise zu verhalten, die die Freiheit des anderen und der Gemeinschaft vergrößert. Denn je größer die Freiheit ist, desto größer sind die Wahlmöglichkeiten und desto eher ist auch die Chance gegeben, für die eigenen Handlungen Verantwortung zu übernehmen. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Nur wer frei ist - und immer auch anders agieren könnte -, kann verantwortlich handeln. Das heißt: Wer jemand die Freiheit raubt und beschneidet, der nimmt ihm auch die Chance zum verantwortlichen Handeln. Und das ist unverantwortlich.»
Wir sehen, wie sich Heinz von Foerster ziemlich weit vom Wortlaut seiner Maxime entfernt und einen größeren ethischen Rahmen aufspannt. Und dies kann er nur auf dem erkenntnistheoretischen Hintergrund eines Konstruktivismus. Denn gäbe es klare und absolute Wahrheiten, die nicht zu interpretieren sind, gäbe es ein eindeutiges Erkennen der Dinge, dann würden allfällige Möglichkeiten von der ‹Wirklichkeit› selbst zerdeppert, und es gäbe auch den direkten Impetus, die eigenen Aktivitäten und die eigene Freiheit im Hinblick auf eben diese ‹Wirklichkeit› einzuschränken. Wer weiß, was richtig und falsch ist, macht das.

Dazu kommt der zweite Impetus, die Aktivitäten und die Freiheit anderer Menschen einzuschränken. Wer weiß, was richtig und falsch ist, darf das. Das beobachten wir täglich. Und immer bei Leuten, die glauben zu wissen. Ob es sich hier um religiöse, ökonomistische oder biologistische Ideologien handelt, ist egal. Wer weiß, was richtig ist, darf in das Leben anderer eingreifen.

Im (radikalen oder sozialen) Konstruktivismus werden wir nun von keiner kulturellen Wirklichkeit ‹erschlagen›, die uns zwingen will, die Dinge auf eine bestimmte Art und Weise zu sehen. Als Skeptiker sind wir jederzeit frei, uns dafür zu entscheiden, daß etwa der Satz eines ‹Wichtigkeitswichtels› «Bei uns steht im Mittelpunkt der Mensch!» eine Lüge ist.

Der schöne Satz, die Maxime, der ethische Imperativ «Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst!» wendet sich also nicht nur gegen den weit verbreiteten Glauben an die eine richtige Antwort auf eine beliebige Frage – wohlgemerkt die eine richtige Antwort, die andere Antwortmöglichkeiten ausschließt und ausschließen soll. Die öffentlichen Reden sind überfüllt mit diesen einen richtigen Antworten, triefen von einem ‹abschließenden (alternativlosen) Vokabular›.

Nein, denn darüber hinaus skizziert Heinz von Foerster in seiner Maxime, daß eben gerade die Vielzahl von Möglichkeiten, die wir uns offen halten und aus denen wir wählen können, ein Hinweis auf ein intaktes Personen-System ist. Oder anders ausgedrückt: Radikaler oder sozialer Konstruktivismus als die leitende Erkenntnistheorie eines Individuums plus Beherzigung der Foerster‘schen Maxime können in unseren Augen zu einer psychischen Gesundheit und Stabilität führen. Wir haben diesen Gedanken schon hier und da und auch dort erläutert. Albertine Devilder sagt es in einem Essay so:
«Aber wenn es mal eng wird im Leben, hat die freche Konstruktivistin gegenüber dem ‹naiven› Realisten einen großen Vorteil. Während jener unbeirrt an seinem ‹abschließenden Vokabular› festhalten muß, auch wenn die Welt um ihn herum zusammen kracht, kann diese ihr Gewordensein zu jeder Zeit neu beschreiben und so neu ausdrücken, daß sie aus dem sie einengenden historisierenden Vokabular herausspringen und damit ihre Welt zusammen halten kann, nur eben auf eine andere Weise. Oder anders: Der ‹naive› Realist ist dazu verdammt, wirkungslos und rettungslos an den Gitterstäben seines allzu engen Sprachgefängnisses zu rütteln, während sich die Konstruktivistin, mit oft überraschend positiven Konsequenzen, ein anderes Sprachgefängnis aussucht – bis sie sich dazu gezwungen sieht, auch dieses zu verlassen.»
Ja, so könnte es sein. Vielleicht hat Heinz von Foerster dies gemeint?


Kai Romhardt

Kai Romhardt ist ein dem Buddhismus zugewandter Unternehmensberater und Meditationslehrer, der mit dem ‹Netzwerk Achtsame Wirtschaft› als Koordinator verbunden ist. In der Zeitschrift ‹Buddhismus aktuell› fand ich unter der Überschrift ‹Kontemplationen für beschäftigte Leute› neben vielen anderen Maximen für eine achtsame Lebensführung in Wirtschaft und Beruf dies:
«Möge ich mir nicht alle Optionen offen lassen, sondern durch weise Wertentscheidungen die Anzahl meiner Möglichkeiten reduzieren und so zu einem sicheren Pfad für mein Leben gelangen.» [2] Kai Romhardt: Kontemplationen für geschäftige Leute. In: Buddhismus aktuell. Ausgabe 2/2013, Seite 41.
Nun sind wir überrascht, denn dieser Satz scheint der Foerster‘schen Maxime zu widersprechen. Schauen wir zunächst auf den Kontext. Wie oben schon gesagt, geht es um ‹beschäftigte Leute›, es geht um das Arbeitsleben. Und sogleich erscheint uns die Romhardt‘sche Maxime in bestimmten Kontexten und Situationen ganz sinnvoll zu sein. Im Berufsleben, in wirtschaftlichen Dingen scheint es so zu sein, daß man sich etwa zwischen dem Angebot A und dem Angebot B zu entscheiden habe, da man die Dinge nicht auf die ‹lange Bank› schieben könne. Geschichte wird gemacht. Das Offenhalten aller Optionen scheint unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt unangemessen. Und gibt es bei ökonomischen Entscheidungen nicht sehr oft einen Zeitdruck? Müssen An- und Verkäufe nicht zeitlich genau platziert werden?

Doch ist es nun so, daß in dem obigen Aphorismus von einem ‹sicheren Pfad für mein Leben› die Rede ist. Und das eigene Leben hat ja - für einen Nicht-Wirtschaftler – nicht ausschließlich mit Wirtschaft zu tun. Und dann sind wir doch bei einem Widerspruch, bei einem Gegensatz zu der lustvollen Foerster‘schen Maxime: «Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst!»

Konfrontiert mit zu fällenden Entscheidungen (Studiere ich dies oder das? Beschäftige ich mich mit diesem oder jenem?) werden wir auf ‹weise Wertentscheidungen› verwiesen, die die Anzahl meiner Möglichkeiten reduzieren sollen. Mit der Hoffnung, daß wir – vielleicht in einer Sternstunde – zu ‹weisen Wertentscheidungen› fähig sind, sehen wir wieder einen Sinn in diesem Aphorismus. Erfreulich ist, daß Kai Romhardt weiß, daß diese Wertentscheidungen aus unserem biographischen Gewordensein erwachsen, denn er sagt in den oben genannten Kontemplationen auch:
«Möge ich verstehen, wie die Grundüberzeugungen der Gesellschaft und meiner Herkunftsfamilie meine Ideen von Arbeit und Geschäftigkeit durchdringen und meine Handlungen und Emotionen lenken.»
Das gefällt uns naturgemäß sehr, haben wir uns doch sehr früh in der Geschichte der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› mit der erstaunlichen Nähe zwischen Sozialem Konstruktivismus und Zen-Buddhismus beschäftigt. Und es dürfte klar sein, daß die meisten ‹weisen Wertentscheidungen› eben keine sind, sondern Entscheidungen, die bereits lange vor einem in dem sozialen Raum gefällt wurden, in dem man Person geworden ist. Denn durch unser Hineingeborenwerden in eine bestimmte Kulturepoche und in bestimmte soziale Räume existieren wir zu einem großen Teil bereits, bevor wir selbst als Person zum Zuge kommen. Falls wir überhaupt zum Zuge kommen.

Wir vermissen bei Kai Romhardt Foersters breitere ethische Perspektive, ‹dass man die Aktivitäten eines anderen nicht einschränken soll, und dass es gut wäre, sich auf eine Weise zu verhalten, die die Freiheit des anderen und der Gemeinschaft vergrößert.› Aber dies kann kein Vorwurf sein, denn die ‹Kontemplationen› definieren ja selbst ihren Bedeutungsraum.

Lassen wir also diesen scheinbaren oder ‹wirklichen› Gegensatz zwischen dem Foerster‘schen und dem Romhardt‘schen Aphorismus stehen. Möge ein jeder sich überlegen, wann er welchen zu beherzigen habe.


Robert Musil

Im Prolog zu diesem kleinen Essay haben wir zwei Wege beschrieben, einen breiteren, der von fast allen Menschen gegangen wird, und einen schmaleren, der den meisten Menschen wenig gangbar erscheint. Und wir haben gefragt, was denn uns für unser Leben, für unseren Ethos bleibt, wenn wir den schmaleren Weg gehen? Eröffnen sich beim zweiten Weg Pfade und Möglichkeiten, die uns erfreuen könnten? Oder ist die Melancholie unser ständiger Begleiter?

Heinz von Foerster sagt oben: «Nur wer frei ist - und immer auch anders agieren könnte -, kann verantwortlich handeln.» Das gefällt uns sehr. Und wir überlassen Robert Musil, den wir sehr schätzen, das Schlußwort, denn hier wird dieser schöne Satz variiert.

Schon oft hat uns genau dieser folgende Ausschnitt geholfen, die Welt auszuhalten. Und eine ethische Perspektive ergibt sich ja auch sofort, auch wenn es gar nicht anklingt. Und selbst die Frage nach der allfälligen Melancholie wird beantwortet. Ach, wir lieben diese Stelle aus dem ‹Mann ohne Eigenschaften›:
«Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, [...] dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. [...] Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler. Wenn man sie loben will, nennt man diese Narren auch Idealisten.» [3] Robert Musil (1981): Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Herausgegeben von Adolf Frisé. Reinbek: Rowohlt Verlag. Seite 16.
Finis.



Ins Netz gestellt am 23. Juli 2013
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