BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kurz und knapp: Das ‹Ich› im ‹Sozialen Konstruktivismus›»
von Albertine Devilder & Helmut Hansen
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«Lebt man, beobachtet man die Menschen,
so muß das Herz brechen oder sich verhärten.»
(Nicolas Chamfort)

«Die meisten Menschen leben in der Welt, in der sie leben,
so unüberlegt, sie denken so wenig,
daß sie die Welt, die sie immer vor sich haben, gar nicht kennen.»
(Nicolas Chamfort)

«Menschen, Menschen san mer alle –
ist keine Entschuldigung, sondern eine Anmaßung.»
(Karl Kraus)

«Es ist schade um die Menschen.»
(August Strindberg)

Einführung

Es ist so: Immer wieder erhalten wir Anfragen von Studierenden, wieso und warum wir als ‹Soziale Konstruktivistinnen› behaupten würden, es gäbe kein Subjekt (kein ‹Ich›, keine ‹Person› etc. etc.). Diese These sei doch offensichtlicher Blödsinn, denn jeder müsse doch wohl am besten wissen, daß er existiere und somit ein ‹Ich› habe etc. etc. Leider sei nun aber die Klausur in zwei Tagen, und ob wir nicht eben mal ein kleines Exposé rüber schicken könnten, wie wir das jetzt genau meinten, etc. etc. Und das wäre echt super etc. etc.

Henriette Orheim hat in ihrem klugen Essay ‹Bemerkungen zum ‹Externen Realismus› gezeigt, wie die heute im Wissenschaftsbetrieb der ‹Exzellenz-Universitäten› abhängig angestellten ‹Wissenschaftler› in ihren Lehrbemühungen noch einmal kurz, gleichsam im Vorübergehen, konstruktivistische Ideen erwähnen – da diese über vielleicht 20 Jahre hinweg eine wichtige Rolle im Wissenschafts-Diskurs gespielt haben, meinen die Lehrenden immer noch, diese Ideen erwähnen zu müssen –, um dann aber diese zu denunzieren und wissenschafts- und erkenntnistheoretisch veraltete naiv-realistischen Modelle des Mainstream zu verteidigen, da anders die Rechtfertigung des zur Ware verkommenen Wissens nicht zu leisten ist.

Ein Ergebnis von Henriettes Recherchen war nun die in der Mainstream-Lehre immer wieder geäußerte Behauptung, das ‹Subjekt› würde im ‹Sozialen Konstruktivismus› verschwinden. Und jeder Lehrende, der dies seinen Bachelor-Studierenden mitteilt, kann sich sicher sein, daß er damit zur allgemeinen Erheiterung beiträgt. Schließlich spürt ja jeder Studierende ganz persönlich das ‹Subjektive› seiner Existenz, insbesondere, wenn er statt der abgeschafften mündlichen Prüfungsleistungen nur noch ‹objektive› Multiple-Choice-Fragebögen auszufüllen hat.

Nun gut. In diesem kleinen Text möchten wir kurz und knapp zusammenfassen, wie Soziale Konstruktivistinnen es mit dem ‹Ich› halten. Klar, eigentlich ist in unserem ‹Bochumer Bericht Nr. 5› alles gesagt (im 3. Kapitel gibt es ausführliche persönlichkeitspsychologische Bemerkungen, im 4. Kapitel werden Personen als Systeme und im 5. Kapitel Personen als Texte skizziert). Leider müssen die Studierenden heute aber so viele Punkte innerhalb ihrer Module sammeln, und dieses Gesammelt-Haben sogleich – in Echtzeit – in ‹sozialen Netzwerken› öffentlich machen, daß doch wenig Zeit zum Lesen bleibt.


Bisher

Die freche – und von den Herren des Wörterbuchs so wohlwollend aufgenommene – Behauptung des ‹gesunden Menschenverstandes›, jeder Mensch sei einzigartig und verfüge über ein einzigartiges ‹Ich› hat uns als Soziale Konstruktivistinnen schon immer amüsiert. Man muß heute nur auf die Website verschiedener Medien gehen, um erstaunt festzustellen, daß die Foristen je Medium zu einem Thema fast einhellig einer Meinung sind, sie hassen zum Beispiel die Firma ‹Apple›, sie hassen die ‹Grünen› oder die ‹Linke› etc. etc. Wie kann diese Gleichförmigkeit im Meinen erklärt werden? Nun, unsere Idee, hierfür den Begriff ‹Soziale Räume› heranzuziehen, trifft ziemlich genau.

Fassen wir kurz zusammen, was wir im Skepsis-Reservat zum Thema, zum Problem des Subjekts in der Post- oder Spätmoderne bisher zusammen getragen haben: Alle diese Texte machen deutlich, daß unsere Pólis genau den Kulturinsassen braucht, den sie täglich erzeugt, also den Bürger nötig hat, der als vermeintliches Subjekt alles aushält, was ihm in der Postdemokratie zugemutet wird. (Hält er es nicht aus, wird er als Wutbürger denunziert, dem es einfach zu gut geht.) Und diese Texte zeigen auch, wie den Kulturinsassen immer wieder versichert wird, daß sie ein ‹Ich› hätten, eine wichtige Person seien, und daß alle gemeinsam eben daran zu arbeiten hätten, den Wohlstand einiger zu mehren, denn im Mittelpunkt aller Bemühungen stehe immer der Mensch. Selbst wenn man ihm nur einen Stundenlohn von 4.50 Euro zahlen könne. Halten wir fest: Die Illusion des ‹Ich›-Habens ist in der Postdemokratie von größter Bedeutung.


Das ‹Ich› im ‹Sozialen Konstruktivismus›: Zum Begriff der ‹Person› im postdemokratischen Subjektmodell und im ‹Sozialen Konstruktivismus›

In den letzten Jahren, den sogenannten ‹Nullerjahren›, hat das tief in unsere Kultur eingebettet Modell vom ‹bürgerlichen› Subjekt fröhliche Urständ gefeiert. Das bürgerliche Subjekt, eingebunden in bürgerliche Räume, ist wieder wer, auch wenn es sich manchmal – siehe oben – als ‹Wutbürger› geriert. Das bürgerliche Subjekt in seiner ganzen Einzigartigkeit ist gefragt wie nie. Keine Nachricht ohne Wortmeldungen von Bürgern, die etwas zu etwas zu sagen haben. Keine TV Sendung ohne ‹Einspieler›, in denen Subjekte gezeigt werden, die das sagen, was alle in dieser Situation und in diesem Sozialen Raum auch hätten sagen können. Jeder kann heute mit machen, wenn es um Nachrichten, um ‹Gefühle›, um Empörung, um Betroffenheit geht. Denn ein jeder ist betroffen. Das ist für uns der ‹Abschied von den Nachrichten›. Schauen wir uns nun einmal etwas grundsätzlicher an, wie wir das ‹Subjekt› sehen. Zunächst einmal ist der ‹Soziale Konstruktivismus› der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› eine Art Verbindung von Radikalem und Sozialem Konstruktivismus, wobei wir mit unserer Ideologie eine größere Nähe zur Position Ken Gergens aufweisen, aber dennoch auch zum radikalen Konstruktivismus kompatibel sind. Noch einmal: Wir sind von Ken Gergen, einem alten Freund unserer Arbeitsgruppe, sehr beeindruckt und beeinflusst, sind aber auf der anderen Seite auch äußerst impressibel, was die Untersuchungen und Argumente von Maturana angeht.

Hier einige notwendige Erläuterungen:
Bemerkungen zur ‹einzigartigen› Person

In dem Essay ‹Zur Legende vom reflexiven ‹Ich›› haben wir deutlich gemacht, daß die Mär vom sich selbst beobachtenden und achtsamen ‹Ich› ziemlicher Unsinn ist, was wir heute dringend bräuchten wäre also eine ‹Anathematisierung des Selbst›. Klar, das wird nur selten geschehen. Denn die Spielbälle des Kapitalismus, die Kulturinsassen, brauchen den Glauben an ihre letzte Instanz: ihr ‹Ich›. Doch ein ‹Ich› hat man nicht so einfach, das muß man sich erarbeiten. Eine ‹Weltbewältigung› ohne den starren Glauben an ein starres ‹Ich›? Wie soll das in einer Welt der Personalisierung, Emotionalisierung und Skandalisierung möglich sein? Lassen wir unserer Autorin Albertine Devilder das Schlußwort, genauer, zwei Schlußworte:

Zum einen schreibt sie im Bochumer Bericht Nr. 5:
«Eine einzigartige Person, ein Individuum im eigentlichen Sinne, ergibt sich entweder aus dem, was in Erziehung oder Sozialisation nicht funktioniert hat, oder aus dem in einem unglaublichen Kraftakt und in einer selbstreferentiellen Sternstunde entstandenen übermütigen und heroischen Einnehmen einer distanzierenden Metaebene. Identität, Eigenwilligkeit, Eigenbewegung entstehen also, wenn dem sozialen Zurichtungsprozeß der eigenen Person nachgespürt wird. Eine Person in diesem Sinne kann so nur ein skeptischer Kultur- und Selbstbetrachter sein. In meinen Augen wird der ganze soziale Konstruktionsprozeß in dem Moment positiv, wo sich das Selbst nicht mehr wie eine Reflexamöbe im Strudel sozialer und medialer Konstruktionsangebote bewegt und ein Patchwork beliebiger Outfit- und Text-Präsentationen heranbildet, sondern die Konstruktionsprozesse als zum Teil durchaus gewalttätige gesellschaftliche Konstruktionsversuche und Identitätsangebote identifiziert und kritisch reflektiert. Heiner Müller sagte mal: «Individualität gibt es nur, wo der Mensch sich der Einsamkeit stellt!» Individualität, Einzigartigkeit gibt es also nur da, kann es nur da geben, wo die Medien als Selbstreferenzunterbecher abgeschaltet werden, wo Diskurse abbrechen und Texte abstürzen. Dann geht es los. Erst dann.»
Und in ihrem sehr schönen Essay über Diskursivität und Textualität skizziert sie unser Sein abschließend und beantwortet damit den vermeintlichen Vorwurf, von dem wir oben ausgegangen sind: Soziale Konstruktivisten behaupteten, es gäbe es gar kein Subjekt:
«Der kognitionspsychologisch sehr beliebten Subjektseligkeit, die einer in cartesianischer Tradition faktisch und zunächst bezugs- und beziehungslos daliegenden realen Außenwelt ein erkennendes, vereinzeltes, auf seine einsame Erkenntnis zurückgeworfenes Subjekt hinzu- und gegenüber gesellt, das sich der Objekte erst annehmen muß, hält Baudrillard sein ‹verführerisches Objekt› entgegen, das das Subjekt bannt, indem es auf sich aufmerksam macht, und seine Bedeutung schon ‹sehen läßt›, bevor das Subjekt überhaupt zum Zuge kommt. Wo der oder die Einzelne eintrifft, fuchtelt das aufmerkende Objekt schon immer mit einer Bedeutung, die von Anderen ausgeschildert worden ist. Das Subjekt verschwindet hier gleichsam in den Ritualen des Sozialen, verbannt auf die billigen, hinteren Plätze im Schauspielhaus der Objekte. Das Subjekt konstruiert zwar seine Umwelt, es selbst ist aber doch zugleich auch nur eine Konstruktion derselben. Einen Dualismus von Subjekt-Objekt zu Gunsten des ersteren, wie ihn Descartes etablierte, finden wir reichlich verfehlt, weil wir Subjekte doch eher als Schauplätze für soziale Konstruktionen sehen, denn als autonome UrheberInnen derselben. Hinter der Oberfläche des Diskurses vermuten wir keine Schattenwelt mentaler Aktivität mehr. Zu Ende gedacht leugnen wir in einer solchen Absolutsetzung des Diskursiven eine in privater Privatheit gelagerte Subjektivität außerhalb der diskursiv fabrizierten Texte. Nur in wenigen Sternstunden unseres Lebens gelangen wir aus den engen und straffen Leitseilen kommunaler Standardsituationen heraus in Musils ‹anderen Zustand› - und ahnen unser Subjektsein: Etwa wenn sich in einer fließenden Rede eine Textlücke ergibt, wenn wir über einen Text staunen, den wir soeben ausgesprochen haben, wenn wir im Augenblick des Aufbaus eines Textes unmittelbar und plötzlich die Textränder sehen und so schaudernd die Grenzen der Sprache spüren, wenn wir an einer Unsagbarkeit scheitern, wenn wir stutzen, angesichts der Selbstverständlichkeit des Selbstverständlichen, und schließlich, wenn wir uns selbst ironisch betrachten.»
Finis.



Erstellt: 16. November 2012 – letzte Überarbeitung: 27. November 2012
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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