BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Bemerkungen zum ‹Externen Realismus›»
von Henriette Orheim
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Einführung

Immer wieder werden in einigen verbliebenen ‹wissenschaftlichen› Enklaven Diskurse begonnen und endlos weiter geführt, in denen von einem «externen Realismus» die Rede ist. Dieser Begriff soll darauf zeigen und verweisen, daß es eine von unserer Wahrnehmung und somit von unseren kognitiven Repräsentationen unabhängige Wirklichkeit da draußen, außerhalb unseres Kopfes, gebe. Und immer wieder kommen die fröhlich oder verbissen Diskurrierenden nach kurzer Zeit, so wie sie es eben verstehen, auf die Idee, daß ‹Konstruktivistinnen› die Realität, das Dasein einer Außenwelt negieren, also bestreiten würden. Nun ja, dieser Vorwurf ist uralt, und er wird meist erhoben von ‹Wissenschaftlern›, denen das Denken insgesamt schwer fällt. Hier einige Bemerkungen dazu.


Was ist Konstruktivismus?

Beginnen wir mit einer Beschreibung, auf was ein beliebig gearteter Konstruktivismus eigentlich aufmerksam machen möchte. Albertine Devilder sagt es in einem ihrer schönen Traktate so:

«Der Konstruktivismus legt Fragen nach Beschaffenheit, Sinn und Bedeutung von Wirklichkeit in die Betrachter selbst. Unsere Erkenntnisaktionen können nicht mehr eine objektive, ontologisch vorhandene Wirklichkeit betreffen oder gar widerspiegeln, sondern ausschließlich die Ordnung und Organisation von Erfahrungen in der Welt unseres Erlebens! Alle Aussagen über die Wirklichkeit sind zu 100% unser Erleben. Der Konstruktivismus sagt also, daß jede Wirklichkeit im unmittelbarsten Sinne die Konstruktion derer ist, die diese Wirklichkeit zu entdecken glauben. Das vermeintlich Gefundene ist ein Erfundenes, dessen Erfinder sich des Aktes ihrer Erfindung nicht bewußt sind, sondern es vielmehr als etwas von ihnen Unabhängiges zu entdecken glauben.»

Es ist verständlich, daß diese Beschreibung für viele ‹Naive Realisten› nicht nur unverständlich, sondern empörend ist, vom ‹Gesunden Menschenverstand› ganz zu schweigen, der sich ja in aller Regel und vorzugsweise als ‹Realist› zu bezeichnen pflegt, weil er meint, unterschiedliche Preise für ein Produkt unterscheiden zu können. Also helfen wir bei der Interpretation des obigen Zitates von Albertine Devilder gerne nach:

Obacht! Unsere Erkenntnisaktionen, unser ‹etwas für wahr nehmen›, sind zwar auf eine ‹objektive› Wirklichkeit gerichtet und sollen diese auch betreffen, doch spiegeln diese Aktionen die Welt da draußen eben nicht wider, sondern sie zeigen die Ordnung und Organisation von Erfahrungen in der Welt unseres Erlebens. Und genau dies bedeutet nun nicht, daß da draussen, in der aufregenden Welt der Wirklichkeit ‹nichts› sei. Dieser Gedanke, der durchaus seinen Reiz hat, scheitert ja bei dem erstbesten Wunsch, sich einen Kaffee zuzubereiten.

Der Konstruktivismus, und insbesondere der ‹Soziale Konstruktivismus›, ist kein ontologischer Solipsismus, wie ihm oft vorgeworfen wird, sondern ein epistemologischer Solipsismus. KonstruktivistInnen bestreiten nicht die Existenz einer von ihnen unabhängigen Außenwelt, sie bestreiten, daß die Welt da draussen ohne unser Zutun und ‹Hast-du-nicht-gesehen?› in unser Gehirn schlüpft. Und naturgemäß ist das ein Gedanke, der in den verwirtschaftlichten Unterrichtsbemühungen an den spätmodernen Hochschulen nicht gerne gedacht wird. Und also denunziert werden muß. Wozu Epistemologie, wo doch die Wirklichkeitshäppchen verzehrfertig vor uns liegen?


Tod des Konstruktivismus

Richtig. Wozu Epistemologie? Epistemologische Fragen passen überhaupt nicht in unsere Zeit. In keinem einzigen Hochschulseminar bestehen Zeit und Raum, um epistemologischen Fragen nachzugehen. Henriette Orheim sagt es in ihrem Traktat über den Tod des Konstruktivismus so:

«Der ‹soziale› und der ‹radikale› Konstruktivismus sind an den Universitäten gestorben, tot. An den heutigen ‹Exzellenz-Universitäten› werden Fakten hergestellt, die es zu verkaufen gilt. Daß Fakten im Sinne der Auftraggeber und Käufer der ‹Wissensprodukte› konstruiert werden, erwarten eben diese.»

Und die Studierenden nehmen es gleichmütig hin. Wenn die ‹Welt› doch so ist? Eben. Lustig ist es, wenn die im Wissenschaftsbetrieb abhängig Angestellten noch einmal im Vorübergehen konstruktivistische Ideen erwähnen – schließlich haben diese einmal über vielleicht 20 Jahre hinweg eine interessante Rolle im allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs gespielt –, um dann die wissenschafts- und erkenntnistheoretisch veralteten naiv-realistischen Modelle des Mainstream zu behaupten und zu verteidigen. Wenn der Auftrag lautet, konstruktivistische Gedanken ex cathedra zu denunzieren, muß man sich was einfallen lassen. In einem Studienbrief der Fernuni Hagen steht als abschließende Kritik zum ‹Sozialen Konstruktivismus› etwa dies:

1. Relationismus als selbst-destruktive Waffe.
2. Probleme durch das Verschwinden des Subjekts.
3. Parasitäre Beziehung zum Mainstream.

Das gefällt uns. Denn – um den ersten Punkt zu kommentieren – die tradierten Wissenschaften dürfen nicht relational sein, sie können überhaupt nicht sagen, daß ihre Erkenntnisse ‹relativ› seien, nein, sie müssen, wirklich ganz ähnlich den Politikern, denen sie sich in schändlicher Weise immer weiter annähern, behaupten, Fakten zu entdecken. Das Wort ‹Faktum› aber bedeutet: gemacht. Ein von ‹sozialen Konstruktivistinnen› gepflegter Relationismus zerstört nicht die wissenschaftliche Arbeit eben dieser ‹Sozialen Konstruktivistinnen›, nein, er erhöht sie, da alternative Wissensbeschaffungsmodelle – etwa narrative Verfahren, Systemtheorie, Wirklichkeitsprüfung – in den Blickpunkt geraten. Und wenn Relationismus bedeutet, daß ‹Soziale Konstruktivistinnen› nicht an die zweiwertige Logik und Poppers Falsifikations-Unsinn glauben, dann ist das ein großer Schritt für die Wissenschaften. ‹Soziale Konstruktivistinnen› denken, daß Wissen in sozialen Räumen hergestellt und in eben diesen für Wissen gehalten wird. Im Raum nebenan kann das ganz anders sein. Relationismus? Aber ja. Selbst-Destruktion? Aber nein.

Und um den zweiten Punkt zu kommentieren: Probleme entstehen durch die allfällige Erhöhung des spätmodernen Subjekts, nicht durch sein mögliches Verschwinden. Das Problem ist die Behauptung, Menschen seien Subjekte (mit all den Voraussetzungen, die sich dann nicht erfüllen). Dazu haben wir viele Traktate geschrieben: So Zur Legende vom reflexiven ‹Ich› und zur dringend erforderlichen ‹Anathematisierung des Selbst›. Ja, ‹Als ‹Ich› in den Nullerjahren› hat man es nicht leicht. Alle behaupten, im Mittelpunkt stehe der Mensch, und der Mensch behauptet, unterm Strich zähle nur er. Die Standardfrage der Krone der Schöpfung in der Jetztzeit lautet: «Und was habe ich davon?» Ja. Wie wir aus dieser endgültigen Erhöhung des Subjekts je wieder hinaus kommen sollen, weiß kein Mensch.

Sollen wir noch auf den dritten Punkt eingehen, die parasitäre Beziehung ‹Sozialer Konstruktivistinnen› zum Mainstream? Diese Behauptung ist seltsam dumm und schändlich. ‹Soziale Konstruktivistinnen› haben sich ja eben gerade vom Mainstream längst gelöst und benötigen keine konventionellen naiv-realistischen Behauptungen, um eine eigenständige Psychologie zu entwerfen. Die vielen Traktate in der Rubrik ‹Perspektiven› oder der Bochumer Bericht Nr. 5 machen das deutlich.

Gelegentlich wird an den Hochschulen die infame Sinnlosigkeit des Konstruktivismus immer noch damit begründet, daß er einen ganz fürchterlichen Widerspruch in sich trage, denn er selbst, der Konstruktivismus, sei ja auch nur eine Konstruktion und gebe sich dennoch also Wahrheit aus. Unser verehrter Mentor Artus P. Feldmann hat einmal in einer anrührenden Geschichte beschrieben, was geschieht, wenn in einer Vorlesung draußen im Lande junge Gehirne unverhofft mit Akkomodationsanstrengungen beansprucht und gefordert werden, und schon nach kurzer Zeit alles auf die Frage hinaus läuft: «Halten Sie das, was Sie in Ihrem Vortrag gesagt haben, für wahr? Ja oder Nein?» Natürlich muß ein Konstruktivist dann ‹Nein› sagen, denn der Konstruktivismus ist auch nur eine Konstruktion, ist nur ein erkenntnistheoretisches Modell, er setzt sich nicht absolut, er behauptet auch nicht, daß seine Sicht nun die einzig wahre wäre. Diese Anmaßung überlassen die Konstruktivisten den Realisten. Aber ein solches ‹Nein!› ist für bisher wenig beanspruchte Gehirne naturgemäß ein Anlaß für große Lustigkeit.


Und jetzt?

Überlegungen zum ‹Externen Realismus› helfen uns nicht weiter. Klar, es geht darum, was da draussen alles da ist. Doch viel wichtiger ist, wie über das, was da draußen angeblich da sein soll, gesprochen wird. Jeder aktuelle Diskurs in Wissenschaft, Alltag und Politik zeigt genau dies: Je nach Medium werden aus Ereignissen ganz spezielle Ereignisse, deren Bedeutung in den verschiedenen sozialen Räumen unterschiedlich gesehen wird.

Wußten wir das schon vorher? Ja. Brauchen wir Abhandlungen über den ‹Externen Realismus›? Nein. Die wenigen verbliebenen wissenschaftstheoretischen Diskurse drehen sich im Kreis. Und ‹Soziale Konstruktivistinnen› sitzen in ihrem ‹hortus conclusus›, trinken grünen Tee und pflegen die Rosen. Nicht schlecht.



Erstellt: 1. Juni 2011 – letzte Überarbeitung: 16. Juni 2011
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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