BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Tod des ‹Konstruktivismus› oder: Wozu Epistemologie?»
von Henriette Orheim
Als PDF-Datei laden

«Die Philosophische Skepsis setzt bei Montaigne
einen weiten Horizont voraus.
Sie ist das Gegenteil der Engstirnigkeit.
Ihr Stil ist die Beschreibung, nicht die Theorie.»
(Max Horkheimer))

Einführung

Mit epistemologischen, also erkenntnistheoretischen Fragen beschäftigt sich die ‹Bochumer Arbeitsgruppe› seit ihrer Gründung im Jahr 1986. Immer wieder kreisen wir um eine ‹Lehre des Erkennens› und machen uns skeptizistische Gedanken darüber, wie wirklich nun eine Wirklichkeit in einem bestimmten sozialen Raum ist – oder besser sein mag. Deswegen nennen wir uns ‹Soziale Konstruktivistinnen›. Und deswegen nennen wir unser methodisches Vorgehen ‹Wirklichkeitsprüfung›.

Vor beinahe vier Jahren schrieb ich in meinem Traktätchen ‹Epistemologie? Agnotologie!›:

«Wer das Wort ‹Epistemologie› nicht kennt und/oder, falls er es kennen würde, nichts davon wissen will, […] hat es gut. Ignoranz sorgte schon immer für einen guten Schlaf. Wer sich aber für epistemologische Fragen interessiert, der stolpert über Fragen und Fragen, und kaum über Antworten. Das ist wunderbar. Denn gerade ‹Antworten› müllen uns ununterbrochen die Ohren zu, wohingegen die wirklich guten Fragen noch gar nicht gestellt wurden. Aber das ist nur das eine.

Das andere ist, daß eine Beschäftigung mit der ‹Lehre vom Erkennen› ziemlich ernüchternd wirkt. Ja, wenn man sich durch die Brille der Epistemologie die traditionellen Formen der wissenschaftlichen Faktenbeschaffung ansieht oder gar auf die Verbreitung von ‹Informationen› in der ‹Gesellschaft des Spektakels› schaut, dann wackeln einem die Ohren, und damit die Brille.
»

Es ist an der Zeit, so das Ergebnis einer Redaktionskonferenz, wieder einmal etwas näher auf epistemologische Fragen einzugehen und vor allem zu klären, was aus diesen heute geworden ist. Ein erster und einfacher Blick in die Stätten der Wahrheitsfindung zeigt uns, daß heute wie vor 30 Jahren an den Universitäten in epistemologischen Dingen ein ‹Naiver Realismus› gepflegt wird. Mit einer interessanten Zuspitzung: Der Naive Realismus ist im finalen Kapitalismus der Postpostmoderne zynisch geworden. Vor 30 Jahren haben die Datenerfinder und Befundhersteller noch an die sog. Empirie (oder in der Psychologie an die Psychometrie) geglaubt, haben Reliabilitäten und Validitäten diskutiert und Hypothesen aufgestellt, um diese dann in Poppers weitreichendem Schatten zu ‹falsifizieren›.

Wir haben den Eindruck, daß sich dies geändert hat. Exzellenz-Universitäten müssen heute exzellente Befunde liefern. Und das ist nicht so einfach. Da kommt man schon auf Ideen, wie der ‹Wirklichkeitsabbildung› mit Hilfe empirischer Untersuchungen ganz dreist und zynisch aufzuhelfen wäre, ohne nach außen hin – in der ‹Öffentlichkeitsarbeit› – den Anspruch aufzugeben, die Wirklichkeit werde mit Hilfe der eigenen empirischen Methoden abgebildet. Das ist das eine. Das müssen wir uns anschauen.

Das andere ist, daß die ‹Herren des Wörterbuchs› immer strikter darauf achten, wie über die Wirklichkeit gesprochen wird. Deswegen vertrauen alle vermeintlich Mächtigen – im Auftrag der ‹Herren des Wörterbuchs› – auf die zynische Grundregel, daß es nicht darauf ankommt, was sie als Mächtige tun, sondern wie darüber gesprochen wird. Und das letztere läßt sich ja ziemlich einfach beeinflussen. Etwa mit Hilfe der einschlägigen Schmierlappenzeitungen, die sich für buchstäblich gar nichts zu schade sind, wenn es darum geht, dem Kapital zu dienen.

Genug der Vorrede, geneigter Leser, geneigte Leserin. Schon geht es weiter mit unserem Update, in dem zu klären sein wird, wie wir auf den Gedanken kommen, der ‹Konstruktivismus› sei verschieden und was das mit einem sog. ‹schwarzen Konstruktivismus› zu tun haben könnte.


Was ist Epistemologie?

Nur ein kurzer Rückblick, damit wir wissen, worüber wir reden. In meinem o.g. Traktätchen ‹Epistemologie? Agnotologie!› schrieb ich:

«Epistemologische Vorstellungen davon, was wir überhaupt sehen, hören und ‹erkennen› können, gehen der Erfahrung, der Beobachtung, dem Hingucken immer voraus. Zuerst Epistemologie, dann Empirie und Erfahrung! Sehen heißt gesehen haben. Sehen heißt wissen! Hören heißt gehört haben. Hören heißt wissen.

Es empfiehlt sich, an dieser Stelle wieder einmal auf den fast vergessenen Ludwik Fleck zu verweisen: «Wir schauen mit den eigenen Augen, aber wir sehen mit den Augen des Kollektivs.» Tja, so ist das. Ein Angehöriger eines sozialen Raumes, eines sozialen Systems, einer Denk- und Sprechgemeinschaft also entwickelt im Laufe seiner Sozialisation eine Art gerichtete Aufmerksamkeit, eine Bereitschaft, nur das zu ‹sehen› und zu kommunizieren, was in dem sozialen Raum bereits bekannt ist. ‹Sehen› heißt für Ludwik Fleck also: In einem entsprechenden Moment das Bild nachzubilden, welches die kommunale Denk- und Sprechgemeinschaft, der man angehört, in ihrer spezifischen Lebensform geschaffen hat.
» [1] Am besten lesen Sie das selbst nach, in unserem Arbeitspapier Nr. 2, ab Seite 16.

Spielen epistemologische Fragen heute eine Rolle? Nein, in einer wirren Kakophonie behauptet ein jeder, mit seiner Lebensäußerung ein Stück Wirklichkeit eingefangen zu haben. Und abertausende ‹Wirklichkeitsprofis› erklären uns bei abertausenden Gelegenheiten, was wirklich ‹wirklich› ist.


Tod des (‹radikalen› und ‹sozialen›) Konstruktivismus

Ein ‹Konstruktivismus› und insbesondere ein ‹sozialer Konstruktivismus›, wie wir ihn verstehen, hatte seine Blütezeit in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die aufregenden Ideen des ‹radikalen› und ‹sozialen› Konstruktivismus sorgten für viele anregende Debatten und Diskurse, nicht nur in universitären Seminaren. Die Betonnacken-Fraktion der Professoren in den Fakultäten fand diese Diskurse überhaupt nicht lustig. Thesen wie «Die empirische Psychologie ist an ihren unlösbaren Problemen gescheitert» oder «Empirische Daten werden ganz grundsätzlich nicht gefunden, sondern in spezifischen sozialen Räumen erfunden» fanden die Machthaber in den Fakultäten nicht lustig, denn sie griffen ihre Geschäftsmodelle an, die darauf beruhten, triviale psychologische ‹Erkenntnisse› – auf die jeder hätte kommen können (‹Führungseigenschaft›, ‹Leistungsmotivation›) – an das Kapital zu verkaufen und gleichzeitig zu behaupten, Wissenschaft sei ‹ideologiefrei›. Wie sagte es damals ein Professor für Klinische (!) Psychologie? «Heute ist doch jeder Professor ein kleiner Unternehmer!» Wohl wahr.

In den 90er Jahren galt es nun, diese neuen gefährlichen Lehren entweder auszusitzen oder zu bekämpfen. Ende der 90er Jahre bekam die Betonnacken-Fraktion der Professoren – wie zu erwarten – eine hinreichende Unterstützung durch postmoderne Studierende, die nun nichts mehr von Erkenntnistheorien und wissenschaftstheoretischen Grübeleien hören wollten, sondern in ihrem wissenschaftlichen Studium – ganz Kinder ihrer Zeit – Antworten auf die drängende Frage einforderten, wie man sich – etwa als Psychologe – mit seinen ‹Produkten› am Markt durchsetzen könne. Das war der Tod des Konstruktivismus an den Universitäten, auch wenn der Todeskampf hie und da etwas länger dauerte. Die Entwissenschaftlichung, Beschleunigung und Verschulung der Studiengänge in den Nullerjahren mit Master und Bachelor verstärkte – wie von den ‹Herren des Wörterbuchs› gewünscht – die Tendenz, die Wahrheitssuche an den Universitäten auf die Wünsche des Kapitals auszurichten. Operation gelungen. Patient tot. Und natürlich gibt es ein oder zwei Ausnahmen. In irgendwelchen entlegenen Privat-Universitäten. Das ändert nichts.

In der Folge nun rutschten die aufregenden konstruktivistischen Ideen und weitere spannende erkenntnis- und wissenschaftskritische Überlegungen ab in den Bereich der Psychotherapie und von dort weiter zu denen, die gerne Psychotherapie machen würden, aber leider die formalen Voraussetzungen dazu nicht erfüllen, also Heilpraktiker, Pädagogen, Erzieher, Lehrer. Das führte zu einem unlösbaren Problem, denn im Sinne des ‹radikalen› Konstruktivismus gibt es keine ‹instruktive Interaktion›. Tja, an dieser Überlegung haben etwa Pädagogen arg zu knapsen. Am besten für sie war es also, die konstruktivistischen Aufregungen zu vergessen und sich wieder an die Lehrpläne zu halten.

Der ‹soziale› und der ‹radikale› Konstruktivismus sind an den Universitäten gestorben, tot. An den heutigen ‹Exzellenz-Universitäten› werden Fakten hergestellt, die es zu verkaufen gilt. Daß Fakten im Sinne der Auftraggeber und Käufer der ‹Wissensprodukte› konstruiert werden, erwarten eben diese. Man darf nur nicht darüber reden. Die ‹Menschen da draußen im Lande› sollen weiterhin glauben, die Wissenschaften schafften ein unabhängiges und ‹wahres› Wissen. Damit sprechen wir über den


Sieg des ‹schwarzen› Konstruktivismus.

Der Konstruktivismus ist im finalen Kapitalismus quicklebendig, weil er in seiner Variante als schwarze Epistemologie gerade die Erfindung von Daten und Fakten erkenntnistheoretisch absegnet. Wenn doch eh alles zusammengebastelt ist, wieso soll ich mich dann um Redlichkeit bemühen? Das ist ‹schwarzer› Konstruktivismus, und der Konstruktivismus, wie wir ihn verstehen wollen, ist davon verschieden. Wo liegt der Unterschied, der einen Unterschied macht? In unserem Arbeitspapier Nr. 6 über ‹Konstruktivismus und Ethik› schreiben wir:

«Der Gedanke, daß Konstruktivismus eine Eliteideologie sein könnte, die von Profis wie Heiner Geißler längst zur Beherrschung von Menschen eingesetzt wird, ist nicht sonderlich beruhigend. Wobei gerade hier deutlich wird, warum Heiner Geißler nur ein Pseudokonstruktivist sein kann. So ein Pseudokonstruktivist gibt dogmatisch vor (ohne vielleicht selbst daran zu glauben), daß seine Weise der Welterzeugung die einzig richtige ist und er setzt diese mit Hilfe von Kreuzzügen und vielleicht auch mit pseudokonstruktivistischen Tricks durch. KonstruktivistInnen halten ihre Weise der Welterzeugung für eine mögliche von vielen, es ist in ihren Augen nicht die richtige, aber vielleicht die nützlichere und überlegenere. Sie setzen diese auch nicht durch, sie bieten sie an. Das ist ein wirklich großer Unterschied!» [2] Ist dieses Zitat nicht allerliebst? Die erste Fassung des Arbeitspapier Nr. 6 stammt von 1988, als Heiner Geißler ein ganz böser Zinken war. Heute spielt er den geläuterten Weisen.

Halten wir die eine und sehr wichtige Dimension des ‹schwarzen› Konstruktivismus fest: Es gibt ein Wissen um die mangelnde ‹Belastbarkeit› von Daten und Befunden, dennoch wird so getan, als seien sie die einzig richtigen und ‹wahren›. Beide, Wissenschaftler, als Datenbeschaffer und Politiker, als vermeintlich Mächtige, reden nach außen hin einem ‹Objektivismus› und ‹Realismus›, also einer zweifelsfreien Entdeckbarkeit der Welt da draussen das Wort, wobei sie sich intern – etwa bei einer Konferenz zur Vorbereitung einer PR-Veranstaltung, einer Besprechung, wie bestimmte Daten zu ‹glätten› seien, damit die auftraggebende Pharmafirma ihre Freude an den Daten hat etc. etc. – darüber krank lachen, mit welchen Begriffen die lieben Wähler und Wählerinnen oder die lieben Kunden und Kundinnen diesmal wieder veralbert werden und – vor allem – wie leichtfüßig sie veralbert werden können. Es gibt keine Beobachtungen ohne Beobachter? Diesen wichtigen Satz aus der Systemtheorie haben die Handlanger der ‹Herren des Wörterbuchs› und alle angeschlossenen ‹Pressesprecher› doch längst verstanden und sagen sich: ‹Hey, da liefern wir eben den Beobachter mit, damit die lieben Wähler und Wählerinnen oder Kunden und Kundinnen sehen, was sie sehen sollen.› Was sagt unsere Kanzlerin so gerne: «Diese Entscheidung war ohne Alternative!» Ja, in der Wirklichkeitswelt geht es schon mal eng zu.

Wissenschaftler und Politiker gemeinsam Hand in Hand für die ‹Ideologiefreiheit› und fürs Vaterland? In den Fußnoten zu Helmut Hansens sehr schönen Traktätchen ‹Worüber befinden eigentlich Forschungsbefunde?› heißt es:

«Der Mythos von der Ideologiefreiheit wissenschaftlichen Forschens hat eine faszinierende Entsprechung in der Mythe von der Ideologiefreiheit politischer Parteien, die eher ‹rechts› orientiert sind. Für diese Parteien und für die mit ihnen verbundenen Helfershelfer in den Medien sind immer nur Vertreter oder Anhänger von «Rot-Grün» ideologisch ‹fixiert›. Vertreter oder Anhänger von CDU/CSU beispielsweise können gar nicht einer Ideologie anhängen, da sie ausschließlich die ‹Wahrheit› artikulieren. […] Die CDU/CSU […] verfolgt keine Interessen, da sie Deutschland einfach nur dienen will. Diese anrührende Sichtweise kann selbstredend nur richtig sein. Und alles, was sich daraus ergibt, ist anrührend unverfälscht. Noch einmal: Eben weil eine Sozialisation ohne zumindest eine Rahmen-Ideologie nicht denkbar ist, kommt es in der Politik darauf an, immer wieder klar zu machen, daß diese eine Ideologie eben keine Ideologie ist. Damit erscheinen die eigenen Ziele und Pläne stets ideologiefrei zu sein, und man kann mit hehrem Pathos verkünden, daß genau diese Ziele und Pläne eigentlich von allen normalen und gesunden Bürgern vertreten werden müßten. Das ist der Trick.»

Wissenschaftler und Politiker Arm in Arm? Nun, angelehnt an eine o.g. Äußerung eines Professors sagen wir: «Heute ist doch jeder Professor auch ein kleiner Politiker!» Und fügen an: Anders wäre nämlich schlecht. Das heißt, anders wären keine ‹Drittmittel› vom Kapital zu kriegen.

Noch ein Aperçu: Mitunter geht der ‹schwarze› Konstruktivismus in den Wissenschaften so weit, daß die Behauptungen des sozialen oder radikalen Konstruktivismus für wahr erklärt werden, um daraus verkaufbare Produkte abzuleiten. So heißt es in einem 2010 erschienenen Konferenzbeitrag:

«Advertising managers seem to be unaware of the fact that the brain constructs its environment instead of perceiving it.» [3] Kai Fehse (2010): Advertising managers can learn from brain researchers. NeuroPsychoEconomics Conference Proceedings Seite 19-20.

Wohlgemerkt: Da steht ‹Faktum›. Daß unser Gehirn die Außenwelt nicht wahrnimmt und abbildet, sondern erfindet und konstruiert, ist plötzlich keine von irgendwelchen konstruktivistischen Spinnern aufgestellte und damit verwerfliche These mehr, sondern eine Tatsache, Herrschaftswissen. Das ist Chuzpe, das ist dreist und unverfroren! Natürlich ist der Hintergedanke dabei, der Welt zu verkaufen, daß Forscher und Wissenschaftler allerdings die Welt so wahrnehmen können, wie sie wirklich ist. Irgendein Verkaufsargument braucht man ja immer. Wir wissen aber, daß dies nur wieder auf den alten Naiven Realismus hinaus läuft. Nun aber im Gewand des ‹schwarzen› Konstruktivismus.

Gehen wir weiter: Erleichternd kommt für die Datenbeschaffer und die vermeintlich Mächtigen hinzu, daß der ‹Gesunde Menschenverstand› mit dem mit den Wörtern ‹Konstruktivismus› oder ‹Epistemologie› Gemeinten gar nichts anfangen kann. Albertine Devilder hat das in ihrem zu eben diesem Thema passenden Traktat so ausgedrückt:

«Was bei einem Menschen mit einem ‹gesunden› Menschenverstand als allererstes auffällt, ist sein fragloses ‹In der Welt Sein›. Dieser Mensch läßt sich nicht irre machen. Doch dieses ‹In der Welt Sein› ist leider für außen Stehende mit einer ‹ratternden Konversationsmaschine› (Berger & Luckmann) verknüpft, der sie kaum je entgehen können. Der Mensch mit einem ‹gesunden› Menschenverstand spricht also, und er spricht viel, und als naiver Realist hält er das, was er an Meinungen und Urteilen über sich und die ihn umgebende Welt hervor bringt, für wirklich. Schlimmer noch: Er glaubt, daß das, was er über die Welt sagt, nicht nur etwas mit eben dieser Welt zu tun habe, sondern sich auch der Wahrheit nähere. Denn ‹naive› Realisten mit ihrem ‹gesunden› Menschenverstand ‹tragen ein ‹Sortiment von Wörtern mit sich herum›, welches wir, mit Richard Rorty als das ‹abschließende Vokabular› einer Person bezeichnen können.»

Mit etwas anderen Worten: Die Datenbeschaffer und die vermeintlich Mächtigen haben eine prächtige Ausgangslage. Da der ‹Gesunde Menschenverstand› fest an seine Wirklichkeit glaubt – und diese täglich in unzähligen Blogs, Kommentaren auf Webseiten und ‹Je-ka-mi-Nachrichten› auch äußert – hält er epistemologische Fragen für Pillepalle und fällt somit auf die Wirklichkeits- und Tatsachenbehauptungen von Wissenschaft und Politik ganz leicht rein. [4] Wie leicht das geht, zeigt ein Blick in die Werbeblätter von Apotheken oder Reformhäusern.

So langsam wird uns klar, warum ‹schwarze› Konstruktivisten sich heute besonders um Wortbesetzungen und ein Aufmerksamkeitsmanagement kümmern. Worte werden verkauft, um in möglichst vielen Ohren möglichst vieler Kultur-Insassen möglichst vieler sozialer Räume an ‹Bekanntes› anzuknüpfen. Und wenn es mal eng wird? Ach, das ist ganz einfach. Wenn vermeintliche Machthaber bei ihrer Machtausübung sich vom ohnmächtigen Volk belästigt fühlen, purzelt ihnen die Standardfloskel aller vermeintlich Mächtigen aus dem Mund: «Ich glaube, daß wir da irgendetwas nicht richtig kommuniziert haben!» Übersetzt heißt das: «Wir setzen unsere Vorhaben (z.B. Atomenergie; Stuttgart 21) ganz unbeirrt fort, da könnt ihr gackern, wie ihr wollt.»

Und da eben die vermeintlich Mächtigen ganz unbeirrt alles für die vermeintlich Mächtigen tun, können sie über epistemologische Fragen nur lachen. Die vom ‹Gesunden Menschenverstand› ohnehin nicht verstandenen und also verachteten epistemologischen Probleme haben sie mit ihrem ‹schwarzen› Konstruktivismus voll im Griff. Und mittlerweile arbeiten sie verstärkt an einer Agnotologie, an der kulturellen Produktion von Unwissenheit. Wenn Epistemologie die Lehre von dem ist, was Menschen erkennen können, so ist Agnotologie die Lehre, wie Menschen davon abgehalten werden können, etwas zu erkennen. Die vermeintlich Mächtigen haben die Sorge, daß die wohlfeilen und allüberall verbreiteten Unterschichts-TV-Programme vielleicht eines Tages nicht mehr ausreichen, um die Menschen davon abzuhalten, sich um das zu kümmern, was sie angeht. Und sofort fallen uns agnotologisch ausgerichtete TV-Sender in den USA, Italien und Deutschland ein. Und die hinter allen Verkennungsprozessen stehenden Schmierlappenzeitungen. [5] «In Wahrheit, falls die Tages-Presse wie andere Gewerbetreibende draußen ein Schild haben sollte, es müßte die Aufschrift haben: hier werden Menschen demoralisiert, in der kürzestmöglichen Zeit im größtmöglichen Maßstab, zum billigst möglichen Preis.» (Aus: Søren Kierkegaard (2004): Geheime Papiere. Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Band 231. Seite 220.) Dieser Aphorismus ist um 1850 entstanden. War es schon immer so schlimm mit dem Pressgewerbe? Also aufgemerkt, liebe Studierenden! Agnotologie: Ein wissenschaftliches Fach mit Zukunft! Denn Sprachkritik war gestern! Heute kann die Abbildfunktion von Sprache nicht mehr ernsthaft bezweifelt werden. Sie ist, um eine Lieblingswort unserer derzeitigen Kanzlerin zu verwenden, ‹alternativlos›! Sehr nett.

Zum Ende dieses Abschnitts müssen wir leider noch erwähnen, daß der ‹schwarze› Konstruktivismus auch in die Interaktion in sozialen Beziehungen abgesackt ist. Allerdings hat er hier eine andere Note. Wer sich ein wenig im Konstruktivismus auskennt, darf in Diskursen aller Art in einem beliebigen Moment ein jähes «Aber das ist von Dir doch auch nur konstruiert!» einwerfen und sich in der Wirkung dieses ‹Argumentes› sonnen. Wir möchten hier ganz behutsam an einen Aphorismus von Goethe erinnern, auf daß sowas nie wieder vorkommt:

«Wahrheit sag' ich euch, Wahrheit und immer Wahrheit, versteht sich: Meine Wahrheit; denn sonst ist mir auch keine bekannt.» [6] Aus der bedeutendsten Epigramm-Sammlung des 18. Jahrhunderts, den „Xenien“ von Goethe und Schiller (1796/97), Stichwort Nr. 209: ‹Das Motto›

Noch unangenehmer wird es, wenn ein Beziehungspartner Einwände und Klagen des anderen Beziehungsverstrickten mit einem «Warum konstruierst Du Dir nicht einfach eine andere Wirklichkeit?» beantwortet. Tja, wenn das so einfach wäre. Leider sind solche amöbenhafte Egodurchsetzereien in den Nullerjahren durchaus angesagt. Und sie tun weh.


Wozu Epistemologie?

Wie kommen wir aus diesem Traktat wieder so heraus, daß wir heute Abend – trotz allem – einen guten Rotwein genießen können? Nun, indem wir uns zunächst die Konsequenzen eines Lebens ohne Epistemologie vorstellen und bei dieser Vorstellung gehörig schaudern! Schauen wir auf das Heer der Verlorenen!

Albertine Devilder schreibt in ihrem schönen Traktätchen ‹Im Faktenkerker› dies:

«[…] Der ‹gesunde› Menschenverstand lebt in einer Welt der Tatsachen, in einer Welt, die sich von sich aus offenbart hat. Er braucht nur hinzuschauen, dann sieht und versteht er. Für ihn zerfällt die Wirklichkeit in einzelne bestimmbare und nennbare Tatsachen. Und über diese Tatsachen oder Fakten hat man Bescheid zu wissen. Denn nur wer viele Tatsachen ‹weiß›, hat einen direkten Zugriff auf die Wirklichkeit - und darf mitreden. Anmutig zusammengefaßt können wir sagen, daß normale Menschen mit einem ‹gesunden› Menschenverstand in einem Faktenkerker leben. In Diskussionen – Diskurse gibt es hier nicht – lugen sie keck aus ihrem Faktenkerker heraus und rufen lautstark das, was ihnen als Faktum erscheint, in die Welt. Da das die anderen normalen Menschen mit ihrem ‹gesunden› Menschenverstand ebenso halten, entsteht nach ganz kurzer Zeit eine Kakophonie der Faktenbehauptungen, ein tosendes Durcheinander an Meinungen und Urteilen über die Welt, die vom Einzelnen als Tatsachen angesehen werden.

Es ist gänzlich überflüssig, inhaltliche Details dieser behaupteten Fakten zu erwähnen. Sie gruppieren sich in den klassischen Genres, über die eben geredet wird, und in den Diskussionen wird deutlich, daß Menschen mit einem ‹gesunden› Menschenverstand ganz übereinstimmend die Ziele verfolgen, die ihnen in der Merkatokratie des finalen Kapitalismus nahe gelegt werden. Die soziale Konstruktion der Personen funktioniert. Wie Marionetten sagen die Menschen mit einem ‹gesunden› Menschenverstand in ihrem ‹abschließenden Vokabular› die Fakten auf, die jetzt gesagt werden müssen. Und die eigentlichen Diskussionen, die Streitereien, das Durcheinander beginnt immer dann, wenn der eine mehr oder etwas wichtigeres zu wissen behauptet, als der andere.

Was wir bei Menschen im Faktenkerker niemals beobachten können, ist eine Erwägungskultur, eine Behutsamkeit, eine Nachdenklichkeit, ein zögerliches Tasten, ein Staunen über Unbegreifliches, oder gar eine Trauer, daß wir mit unserer Sprache die Schönheiten dieser Welt niemals treffen können. Menschen im Faktenkerker leben in ihrem von den Herren des Wörterbuchs geschaffenen Wirklichkeitsraum und schaffen es nicht, sich Möglichkeitsräume zu betrachten. Was möglich ist, grenzt für sie an Träumereien und Spinnereien, doch leider, das wissen sie ganz genau, sind die Fakten ganz anders gelagert. Und Fakten sind wirklich.

Das ist nun alles sehr schade, denn ein Leben im dunklen Faktenkerker ist sehr anstrengend, immer muß man die angesagten Fakten parat haben und sich vernünftig, also gemäß dieser Fakten verhalten. Und ein solches Leben ist auch traurig und unschön, denn es fehlt so viel, wenn die Sprache nur der Tatsachenbenennung dient – und es scheint keine Sonne in den Kerker.
»

Ja, ein Leben ohne Epistemologie, also ohne eine Erwägungskultur, wird schrecklich sein. Immer nur von allen angesagten Produkten den günstigsten Preis zu kennen, damit man sein sauer verdientes Geld nicht ‹die Toilette hinunter spült›, das läßt keinen Raum mehr im Kopf für Absonderliches und Eigentliches. Es bleibt ein Leben im Uneigentlichen.

Dazu kommt der eingeschränkte Wörterhof, der bei allen Leuten, die ohne eine Erwägungskultur und ohne epistemologische Gedanken leben müssen, so leicht zu beobachten ist. Diese Menschen haben keine Freude an der Sprache, sie glauben, daß Wörter die Wirklichkeit abbilden und daß es darum geht, in konkreten Situationen die richtigen Wörter zu finden. Die Funktion von Sprache an sich kann nicht bezweifelt werden. Dabei merken sie nicht einmal, daß in fast allen konkreten Situationen fast alle das Gleiche sagen.

Aus dem Glauben an die Fakten und aus dem Glauben an die Abbildfunktion von Sprache entsteht eine epistemologische Verlorenheit, die immer wieder dann zu beobachten ist, wenn es eng wird. Albertine Devilder schreibt in ihrem Traktat ‹Konstruktivismus und der ‹gesunde› Menschenverstand›:

«[…] Wir kennen alle Diskurs-Situationen, in denen ein naiver Realist, mit zwei bis drei Rückfragen an das Ende seines Menschenverstand-Lateins gedrängt, so hilflos an den Gittern seines engen Wortgefängnisses rüttelt, daß er uns dauert. Der naive Realist hat hier seine engeren (Wachstum; die Linke; Reform) und weiteren (‹Na gut; mit Sicherheit; ich sach jetzt mal›) Begriffe, seine Platitüden und Gemeinplätze ausgepackt, voll Stolz und in der eigentlich unverrückbarer Überzeugung, daß diese Begriffe auf die Welt zielen und auf etwas in ihr zu zeigen vermöchten – und dennoch spürt er, daß es nicht reicht. Doch weiter kann er mit seinem ‹abschließenden Vokabular› nicht kommen. Er kann nicht darüber hinaus steigen. Wenn wir in einem solchen Diskurs Glück haben, wird der ‹naive› Realist irgendwann – hochmütig auf seiner Bastion der in seiner sozialen Umgebung verbreiteten Begriffe sitzend – schweigen. Wenn wir Pech haben, werden wir erleben, wie ihm nur noch Gewalttätigkeit weiterhilft, seinen Weltzugang zu retten.»

Aus dem Glauben an die Abbildfunktion der Sprache entsteht bei all denen, die ohne eine Erwägungskultur aufwachsen und leben müssen, leider auch eine besondere Anfälligkeit für leere und entleerte Wörter. Und genau deswegen hören wir von den vermeintlich Mächtigen so viele entleerte Wörter, die die ‹Wirklichkeit› nicht nur euphemisieren, sondern völlig verschwurbeln. Die reden, sagen aber nix. Helmut Hansen schreibt dazu:

«Der ‹Abschied vom homo politicus› ist in unserer ‹Gesellschaft des Spektakels› so beinahe vollständig vollzogen, daß diejenige, die etwas bewegen und Herausforderungen annehmen will, nur noch mit entleerten Wörtern zweierlei zu bewältigen hat. Zum einen muß sie das im finalen Kapitalismus scheinbar Unabwendbare nachhaltig beschwichtigen, beschönigen und verwedeln, und zum anderen muß sie die dem entleerten Staat zugehörigen Staatsbürger und Staatsbürgerinnen besänftigen, begütigen und beruhigen. Wie könnte das klingen? So:»

«Gehen wir ins Offene, sehen wir die Chance vor dem Risiko. Wecken wir die Kraft der Freiheit für Solidarität und Gerechtigkeit. Setzen wir Ideen in Taten um!» [7] Angela Merkel, am 3.10.2006, dem ‹Tag der deutschen Einheit›, in einer Rede in Kiel.

«Geht es um irgendeine Art von ‹Wirklichkeit›? […] Soll ich diskurrieren, was aus den Begriffen ‹Solidarität› und ‹Gerechtigkeit› geworden ist? Soll ich erläutern, wie wenige Menschen wie viel des gesamten Volksvermögens besitzen? Soll ich gar darüber philosophieren, was das bedeutet, wenn wir ins ‹Offene› gehen? Oder soll ich zynisch werden und sagen, ins ‹Offene gehen› bedeutet arbeitslos zu werden? Soll ich darüber nachdenken, daß es nicht darum geht, Ideen in Taten umzusetzen, sondern welche Ideen in welche Taten umgesetzt werden? Soll ich all dies tun? Nein, das brauche ich nicht. Eine Sinnsuche hinter diesen entleerten Wörtern erübrigt sich völlig, denn es war ja gar nicht so gemeint. Keine Politikerin will ‹die Kraft der Freiheit für Solidarität und Gerechtigkeit› wecken. Um Gottes Willen! Nein. Wo kämen wir dahin? Politiker sind - wie TV-Moderatoren - ‹Sonnenhüter›, sie achten darauf, daß die Sonne über unserer Gesellschaft des Spektakels niemals unter geht.»

In einem anderen Traktat über eine erkenntnistheoretische Spielerei sagt Albertine Devilder:

«‹Naive Realisten›, also etwa alle diejenigen, die kraftvoll unser Land in eine gute Zukunft führen, und all diejenigen, die davon nicht viel mitkriegen, sind Zeit ihres Lebens eingesperrt in die zweifelhafte Erkenntnis, daß ihre Sinnesorgane über einen schlichten, ja, mühelosen spiegelbildlichen Zugang zur Außenwelt verfügen. Und wenn ein solcher ‹Naiver Realist› ein Exemplar eines Tisches sieht, dann sieht er eben ein Exemplar eines Tisches und sonst nix. Und andere Leute haben gefälligst dasselbe zu sehen, wie er. Was klar ist, ist klar, über alles andere muß man gar nicht reden. […] Der ‹Sozialen Konstruktivistin› aber eröffnen sich ganz andere Möglichkeiten, sie kann über Idealismus und Konstruktivismus, über Realismus und Skeptizismus nachdenken und ist bei allen schönen Fragen immer mit mehreren Antworten bei der Hand. Wenn drei Personen an einem Tisch sitzen, sind dann drei oder vier Exemplare dieses Tisches vorhanden? Ach, ein Königreich für eine Frage, die gleichsam als Koan unser Denken beflügelt! Und über Antworten kann man sprechen. Immer wieder!»


Konstruktivistinnen und das schöne Leben

Hören wir nun auf, die Mitmenschen, die ein Leben ohne Epistemologie führen müssen, zu bedauern und stellen wir uns das schöne Leben von Konstruktivistinnen vor, die mit immer wieder neu geprüften epistemologischen Vorstellungen und einer andauernden Erwägungskultur glücklich sind. Doch, doch, ein solches Leben gibt es, hier und da, in einem geschlossenen Garten, einem hortus conclusus, wie dem der ‹Bochumer Arbeitsgruppe›. [8] Siehe dazu das Kapitel 7.3 unseres Arbeitspapier Nr. 14! Helmut Hansen hat dazu ein sehr schönes Traktätchen geschrieben mit dem Titel ‹‹Skeptizismus› und Sozialer Konstruktivismus›. Dem Hauptgedanken dieses kleinen Essays möchten wir nun zum Abschluß dieser Arbeit folgen.

Max Horkheimer sagt in dem diesem Traktat vorausgehenden und es einleitenden Motto, die Philosophische Skepsis setze einen weiten Horizont voraus und sei das Gegenteil der Engstirnigkeit. Das gefällt uns sehr. Wir weigern uns, in einem Faktenkerker zu sitzen, immer engstirniger zu werden, und auf Erlösung zu hoffen, die irgendwann von irgendwoher kommen soll. Da erlösen wir uns lieber selber.

Der entscheidende Gedanke unseres skeptizistischen ‹Sozialen Konstruktivismus› ist, daß wir angesichts verschiedener sozialer Räume und unterschiedlicher Wahrheitssysteme nicht entscheiden können, welche Wahrheit nun die wahre sei. Denn soziale Räume konstruieren jeweils eigene Sinn- und Wahrheitssysteme und schließen sich mit diesen ein und von allem, was da draußen ist, ab, denn da draußen, außerhalb des eigenen Sinn- und Wahrheitssystems, ist ja das jeweils ‹Fremde› oder ‹Absurde›. Ein sozialer Raum lebt also davon, daß er sich seine Sinnkonstruktionen immer wieder aufsagt und fremde Sinnkonstruktionen, fremde Wirklichkeitserkennungssysteme und fremde Wirklichkeitserkennungsbemühungen abwertet, beschimpft, verspottet, verdammt und bekämpft. Von Skeptizismus also keine Spur. Soziale Systeme halten ihr Sinnsystem zusammen, das macht Sinn.

Doch der Wille zum System ist immer ein Mangel an Rechtschaffenheit, sagt uns Friedrich Wilhelm Nietzsche. Und Rahel Varnhagen von Ense mahnt uns, daran zu denken, daß Systeme Gebäude sind, worin sich die Erfinder, aber besonders die Jünger, selbst einsperren. Ist das nicht großartig ausgedrückt? Ja, denn lärmend zu behaupten, daß man mit dem Sinnsystem seines sozialen Raumes den einzig angemessenen Zugang zur Wirklichkeit habe, ist scheußlich. Und es ist der freiwillige Weg in ein Erkenntnis-Ghetto.

Mit diesen beiden Warnungen im Ohr halten sich Skeptikerinnen in ihrem hortus conclusus lieber an einen Satz von Michel de Montaigne:

«Besser unentschieden bleiben, als einem Prinzip verfallen, auch nicht dem meinen.»

Und so erwächst aus einem ‹sozial-konstruktivistischen› Denken heraus eine Skepsis, eine Haltung zur Welt, die wir als achtsame Zurückhaltung, als Ungläubigkeit bezeichnen möchten. Wobei eines unserer Steckenpferde darin besteht, immer wieder auf die geringen Möglichkeiten zu verweisen, mit Hilfe von Sprache auf die Welt zeigen zu wollen. Die skeptische Grundhaltung des Sozialen Konstruktivismus hat aber auch ganz praktische Konsequenzen, wenn es etwa um die Benennung von Wirklichkeiten geht. Nur ein Beispiel: So gibt es heute kaum mehr eine moderne Form der Psychotherapie, die nicht eine Art von ‹Refraiming›, ein Umdeuten, ein ‹Etwas in einen anderen Rahmen setzen› implementiert hätte. Dabei halten sich diese Praktiker an zwei Aphorismen von Michel de Montaigne, die uns jederzeit aus Not und Pein heraus helfen können:

«Unsere Meinungen von den Dingen quälen uns, nicht die Dinge selbst.» Und:

«Wenn uns die Übel nur auf dem Umweg unserer Vorstellungen quälen können, müßte es in unserer Macht liegen, sie zu verachten.»

Tja, liebe Leserinnen und Leser, liebe Freunde und Freundinnen der ‹Bochumer Arbeitsgruppe›, damit läßt es sich gut leben. Wo ist der Rotwein?



Kommentare:


Liebe Henriette,

"Tod des Konstruktivismus" ist eine gewagte Überschrift für einen Artikel auf einer Seite, die "den Konstruktivismus" in ihrem Titel trägt. Mit Nietzsche könnten wir ja unters Volk gehen und fragen, wer ihn getötet hat.

Doch frage ich mich, ob der Konstruktivismus nicht immer schon tot war. Ob er nicht wie viele Ideen und Konzepte, die nunmal unbequem sind, von Vornherein zum Scheitern verurteilt war bzw. dazu, dass er nur in wenigen Köpfen und Gärten sprachlich kreative Triebe bildet. Aber auf welche Wirklichkeiten beziehen sich diese Aussagen? Doch sicher nicht auf die Wirklichkeiten der Autoren dieser Gruppe?

Und Du schreibst selbst, dass eine "instruktive Interaktion" nicht funktioniert - zumindest nicht nach konstruktivistischer Weltanschauung bzw. Erkenntnistheorie. Somit ist es eben auch nicht möglich, eine konstruktivistische Epistemologie oder Wissenschaftstheorie oder Pädagogik in die Köpfe der Menschen zu gießen. Was bleibt? Nur die Möglichkeit der Perspektivwahl und -übung. Ich könnte mir übrigens gut vorstellen, dass die so genannte "Betonnacken-Fraktion" den Konstruktivismus auch als eine Art Agnotologie empfindet.

Wenn wir keine Betonnacken-Fraktionsunternehmer in "epistemologischer Verlassenheit" heranzüchten wollen, dann tun wir gut daran, schon ganz früh zu säen - "Wehret den Anfängen!" - würde Ella B. sagen. Und dieses ganz frühe Säen beginnt in unseren Bildungseinrichtungen. Genau da ist es auch nötig. Dass konstruktivistische Ideen in allen möglichen Systemen explizit zum Tragen kommen können, ist grandios. Von einem "Abrutschen" in die Heilpraxis und Pädagogik würde ich nicht sprechen. Im Gegenteil: Wo sollten diese Ideen sonst am Besten zum Tragen kommen als in ihrer Anwendung in Bildung und Erziehung?

In vielen Schulen tragen konstruktivistische Konzepte - auch wenn nur implizit - bereits Früchte. Schulen sind schon lange nicht mehr nur ausschließlich Stätten der versuchten und scheiternden "instruktiven Interaktion" und erzwungenen Beziehungen. Es bewegt sich einfach zu viel, als dass man behaupten könnte, Pädagogen hielten sich nur an ihre Lehrpläne. Da es keine instruktive Interaktion geben kann, dauern Bildungs- und Entwicklungsprozesse einfach länger, und diese Bewegungen sind von außen gesehen oft sehr winzig. Manchmal ist es hilfreich, ganz genau hinzuschauen und Geduld zu haben. Es ist nicht alles schwarz, was man nicht sehen kann.

Auf der anderen Seite frage ich mich: Geht es überhaupt darum, den Konstruktivismus in die Schulen und in die Welt zu tragen? Wäre es nicht schöner,&xnbsp; Empathiefähigkeit und Phantasie (wie Lisa R. meint) an diesen Orten zu ermöglichen? Poesie, Narrationen und Projekte statt wissenschaftlicher und philosophischer Diskurse? Wollen wir uns weder an der Erzeugung "toten Wissens" noch an der Erzeugung von "Unwissenheit" beteiligen, sollten wir weder den Konstruktivismus noch wider den "schwarzen Konstruktivismus" predigen, da dies ebenfalls in ein "abschließendes Vokabular" münden könnte. Ganz offensichtlich aber war und ist der Hype um den Konstruktivismus nicht ganz unschuldig an der Abwendung von konstruktivistischen Konzepten.

Wirklichkeitsbehauptungen - was auch immer dies genau sein mag - in diese Welt&xnbsp; und an die Ohren und Augen zu katapultieren, ist Teil und Ziel der Presse- und Mediendemokratie. Man kann die Anzahl der Schreiber und Redner durch strukturelle Bedingungen wohl erhöhen, aber wenn damit der Gedanke verbunden ist, gleichzeitig auch die Anzahl intelligenter widerstandsfähiger Sprachwerke zu maximieren, kann man nur scheitern. Allenfalls multipliziert sich die Dummheit durch die redundanten unbedachten Schreiberlinge - leider. Aber auch Konstruktivistinnen machen Setzungen, über die sie nicht hinauskommen und die von&xnbsp; gegenwärtigen und zukünftigen Zeitgenossen aufgegriffen, zitiert, wiederholt werden - in Endlosschleife.

Liebe Henriette, für Dein zartes Alter hörst Du Dich schon etwas verbittert an. Ich fände es auch sehr schade, wenn Du Dich an dem allzu engen abgeschlossenen Vokabular einer A. Merkel und anderen kaum zu ertragenden zeit- und phantasieraubenden Zeitgenossen aufhieltest. Alternativlos ist auf jeden Fall dies: Wir müssen anders zuhören und hinschauen lernen.

Es grüßt Dich
nele

_______


Das Ende des Todes I

Warum beschäftigt sich die Bochumer Arbeitsgruppe mit erkenntnistheoretischen Fragen? Das ist doch sowieso unmöglich. Warum glaubt Sie nicht einfach und übt sich in Demut und kollektiver Hingabe. Ach bitte, seien Sie doch so freundlich! Nachkriegstrauma meets Vorkriegstrauma? Mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit sind Sie frömmer als Sie glauben.

Müssen wir nicht wenigstens ein Quentchen mehr, als wir zweifeln, glauben – schlicht, um handlungsfähig zu seyn? Und wüsste ich, dass morgen die Welt untergeht, so würde ich dennoch einen Businessplan schreiben?

Bis der Mensch sich damit arrangiert hat, dass er ein Aff ist, ist das Leben oft schon wieder vorbei. Um früher zu begreifen, was Leben heißt, müssen wir auch schon früher üben zu sterben. Hypnotisch rauschen Ebbe und Flut aus Resilienz und Degeneration. Onkel Watzlawick und Vaihinger sind tot – wie aber soll eine Idee sterben, die alltägliche, ja sekündliche Notwendigkeit ist? Wer prüft, inwieweit er sich den Hintern sauber gewischt hat, bietet ein Schauspiel systematischen Zweifelns, ein sich unentwegt erneuerndes Monument von Wissenschaft: Zeiten zu zweifeln, Zeiten zu glauben. Bitte Rotwein für die ganze Gruppe! Na nu schauen Sie nicht so skeptisch und bewegen gefälligst Ihren Hintern! Ohne Konstruktivismus hätt selbst dieser Bush vergessen zu stammeln.

Irgendwann freilich müssen wir tun, als könnten wir all-in-one Gödel und Heisenberg vergessen und kuscheln uns in ein Systemchen. Gleich als ob es dergleichen gäbe, bleibt uns ja auch letztlich nichts weiter übrig, als so zu tun, „ALS OB“. Bis es unangenehm zieht im bis dahin fabelhaften „System“ oder nach verdampfendem Knochengewebe riecht und wir das Phänomenologische wieder auf die Seite legen & zur Abwechslung einmal mehr Konstruktivist = Xenologe werden. So viel Mapping und Herumoszillieren und dann doch wieder soziales Vergessen! Tausche Wittgenstein für Kinder gegen Playstation unterm Kopfkissen. Und nach so Stellvertreterkriegen dann wieder die Planstelle des Schweinepriesters oder der Tempelhure übernehmen. Betonung auf Brüderlichkeit statt „Liebe ist Kriegsgebiet“. Und immer weiter so im allzeit modernen Tetralemma–Trance-Zen-Dance-Schritt. Prima Sach alleweil: Realität ist das, was entsteht, wenn zwei Irre anfangen zu glauben, dass sie sich auf eine fixe Idee hätten einigen können: Scheiss doch auf die Phänomenologie, ich bin cool! Hau dem Konstruktivismus die Birne weg, wir sind Deutschland! Mais attentione: Wer mit einem brunftbereiten Krokodil zu flirten versucht, wird bestenfalls noch rekonstruieren dürfen, dass sich das Er-Finden religiöser Kompromisse etwas schwieriger gestaltet als mit artverwandt emergierten Resonanzkörpern. Auf einer einsamen Insel natürlich empfindet man irgendwann selbst die Eiswürfelaugen Suitbert H. Ingers als voll empathischen Leuchtens... "Einsamkeit ist ungestillter Durst nach Illusionen" (Abe). Jede Wolke ein Lächeln Gottes. Verrückt werden kann man sich irgendwie nicht so richtig vornehmen.

Derzeit arbeite ich bei der Erfindung der Welt bspw. mit einer sehr engagierten Ethnologin zusammen. Die Systematik ihres Zweifelns und Arbeitshypothesen-Aufstellens finde ich entschieden beeindruckend! Das Ausmaß des Zweifelns, das ihr mit ihren 6 Monaten weltweit zugemutet wird, schreit nach Religion und auch immer neuer, körpersprachlicher Bestätigung über den Abschluss einer ausreichenden Lebensversicherung für ihren unerwarteten Weltraumeinsatz. Ich hoffe sehr, das mit dem Seelsorgerischen gelingt mir einigermaßen! Ich kann ja auch bloß mehr oder minder gut lügen. Haben Sie keine Angst, so mutterseelenallein im Weltraum? Bochum hört sich an wie Kaufland. Was glauben Sie denn für Sonderangebote zu haben?

Nun ist eine solche Arbeitsgruppe ja trotz biblischem Altertum vielleicht kein Systemsarkophag sondern open space und voll aktueller Unmöglichkeiten. Mehr Eitelkeit, zweifeln zu wollen, mehr Sehnsucht, überzeugt zu werden, vertrauen zu dürfen. Vielleicht wird ja selbst das Merkel wiedergeboren. Und ich als Krokodil! Wenn nun zu lesen sein mag, dass der finale Kapitalismus das Urvertrauen erschüttert hat, möcht ich freundlich anfragen - geht denn das? Wozu schreiben, wenn nicht glauben?

System als Kirche. Skepsis-Reservat als Höhlenkloster. Selbst in der Kunstgattung des sozialen Zweifelns mögen wir's schlecht lassen, Ikonen nachzuäffen. Und gucken ansonsten, was der Nachbar eigentlich schon wieder macht. Dieser Fisch!

Ja, wo lebt denn der? Grüne Meme? Faschistisches Kommunistenschwein? Rasierter Mitarbeiter? Oder eher beige? Den müsste man mal an so eine Kruse-Maschine anschließen, wie sie der Schäuble bestimmt schon testet! Ist der Aff überhaupt kulturkompatibel mit seinem Gardinenblick-Charakter? Was soll an solch glotzendem Leben wertvoll sein? Was bedeutet die Beziehungsstruktur eines Satzes ohne die eines anderen?

Wenn wir mit Cioran das Kirchenbauen und Auseinanderlegen ein bisschen geübt haben, so darf man sich zumindest über das allzu Menschliche wundern. In Ihrer Buchstabensuppe: Ich schreibe, als könnte ich für andere sprechen. Aber wer lebt denn schon in einem finalen Kapitalismus? Die Hell Angels, die mit sächsischen Ministerialen interkulturelle Kommunikation simulieren im Dolno Schlonske-Puff? Ein neurotisierter Knabenchor auf Promotiontour? Black Mickey Mouse im weißen House? All die unternehmerisch Initiativen auf Hartz IV oder ihre Betreuer auf Hartz III? Die Hippe, die hinterm Spielplatz auf´s Gangbang-Flattern harrt? Der Feminine, der alle Roland Klick-Filme kennt? Die Integrationsbeauftragte von XE-Services? Die Rekordmasturböse im öffentlich rechtlichen Rollstuhl? Als Psychodesigner müsste man das erst alles erst mal hübsch ordentlich nach den verschieden, einander ergänzenden Memen diagnostizieren! Bevor die pharmakologische Aufbereitung angebahnt werden kann.

Auch wenn man kein Abramowitsch ist: Soterias muss man sich leisten können. Da besteht kein Zweifel, dass wir mindestens erst mal die Kaste klären müssen, aus der heraus ein Zweifel oder Glaubensbekenntnis missionarisch laut werden. Was glauben Sie eigentlich, mit wem Sie es bittschön zu tun haben? Wer nicht weiß, wo er ist, weiß nicht, was er soll. Mein Vater war Elektriker und Mutter unverhältnismäßig phantasievoll. Jawohl.

Doch von Graves Marxismus–Recycling mal abgesehen: Welche Kulturgemeinschaft unter anderen KG´s regrediert denn Ihrer Opinion nach just for fun ins Letale wenn nicht Feudale zurück? Nach Clare Graves leben wir in einer pluralistischen Gesellschaft, liebe Gemeine! Sie scheinen die Kühle der Präzision zu scheuen, mit Verlaub! Offenbar kein Killerbambi am Werk gewesen. Wer oder was spricht da bitte überhaupt wie einer für alle über Gott und die Welt? Ein trotz Meditationserfahrung aufgestörter Kiesel aus einem Steingarten in Kyoto? Die globalisierte Plantagenbanane vom anderen Ende der Welt? Das nekrotische Bein eines hebräischen Zuckerkranken? Das muss sich doch klären lassen! Ein animalischer Reflex auf Selbsterfahrungstrip? Ein sich über externe Allianzresonanz um Chronifizierung bemühender Ego-State, wie ihn selbst dieser interessante Senor Fleck wohl noch nicht kannte? Der von Gunther Schmidt erfundene Pressesprecher des von Nietzsche diskriminierten „Inneren Parlaments“? Das um Worte ringende Medium des kollektiven Unbewussten eines Clans? Der Abschnittsbevollmächtige einer ökologisch verdächtig emanzipierten Kulturgemeinschaft? Ein Fraktal aus dem Klartraum einer sich epidemisch ausbreitenden Spezies? Naturzwang hin wie her. Ich kann nur für mich sprechen. Ich kann auch nur für mich sprechen.

Max Liebscht, Görlitz


Literatur:

Kuhl, Julius (2005): „Der kalte Krieg im Kopf. Wie die Psychologie Naturwissenschaft und Religion verbindet“, Freiburg: Herder.

Rombach, Heinrich (2003): „Die Welt als lebendige Struktur. Probleme und Lösungen der Strukturontologie“, Freiburg: Rombach Verlag.

Rombach, Heinrich (1994): „Der Ursprung. Philosophie der Konkreativität von Mensch und Natur“, Freiburg: Rombach Verlag.

Varga von Kibéd, Matthias (1996): „Die gemeinsame Form von Zeichen, Unterscheidungen und Paradoxien“, Müllheim: auditorium-netzwerk.

Varga von Kibéd, Matthias (2008): “George Spencer Brown. Die Unterscheidungstheorie Spencer Browns und die Unterscheidungsaufstellung“, Aachen: Ferrarimedia.

_______


Verehrter Herr Liebscht,

da Ihr ausführlicher Kommentar mit seinen angenehm grenzwertigen Einlassungen nur durch meine eindringliche Fürsprache den Weg in das Skepsis-Reservat finden konnte, wurde ich von der Chefredakteurin (ja, wir rotieren!) zu einer Stellungnahme verpflichtet. Dem muss ich wohl nachkommen.

Zunächst, warum habe ich beim Lesen und auch beim Wiederlesen Ihrer Kommentierung das tolle Stück der zu recht hochgelobten neuen Mutter im Ohr? Den vielen vordergründig kodifizierten Brotkrumen durch ihren Wortwald folgend, wäre es zu erwarten, dass Sie wohl wissen, was da in meinem Gehörgang brummt; dieses umwerfende Lied, in dem wir als ein Durchfall durch jenes Loch besungen werden, das das Leben ist. Dies ist eine Sicht auf unsere Rolle in diesem Da- und Dortsein, die ich uneingeschränkt und unbedingt teile. Wobei ich ergänzen würde, dass wir wahrscheinlich beides zugleich sind, Viruserkrankung und Diarrhöe. Wir sollten da nicht so engstirnig zweiwertig denken. Womit ich bei meinem ersten Punkt angekommen wäre. Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Ihnen an einer Auflösung gelegen, an einer Entscheidung für den Glauben, im Sinne eines Münchhausener Willensaktes an den eigenen Haaren aus dem Sumpf des Zweifelns, hin zu einer Bejahung des Seins oder des Seyns oder von was auch immer. Finde ich toll, ich schaue auch jeden morgen in meinen Müsliteller und preise mich für diesen langen Weg, den ich zurück gelegt habe, um endlich glauben zu können, dass ich morgens in meinen Müsliteller schaue und mich für diesen langen Weg preise, den ich zurückgelegt habe, um endlich glauben zu können, das ich morgens in meinen Müsliteller schaue na ja, und so weiter. Ach, diese endlos verflochtenen Bänder, was würden wir nur ohne sie machen? Wär echt langweilig. Quizmaster: Welcher Impetus treibt uns dann dazu, diese kunstvoll geflochtenen Bänder unbedingt auflösen zu wollen? Kandidat: Dazu würde ich gerne den Jenseits-Joker nehmen. Quizmaster: Wie sie wünschen. Hallo. Hallo? Wer spricht? Stimme: Ja hallo, hier ist David Foster Wallace aus dem Swedenborg-Raum, guten Abend. Quizmaster: Hallo, na, von Ihnen haben wir ja lange nichts gehört. Unser Kandidat hätte da mal eine Frage. Kandidat: Hallo Dave, ich darf doch Dave sagen? Dave: Nun, OK. Kandidat: Also Dave, ich hab' da dein Buch gelesen, das mit der Unendlichkeit. Dave: Och nee, die machen hier drüben die ganze Zeit schlechte Scherze von wegen Unendlichem Spass, geht mir echt auf die Nerven. Kandidat: Neinnein, keine Sorge, ich meine das andere mit den mathematischen Grundlagen der Unendlichkeit, versteh' zwar kaum was, aber so ein paar Brocken waren unheimlich erhellend. Dave: Hey, OK, schieß los. Kandidat: Erst wollt' ich Dir aber noch sagen wieviel mir Deine Bücher bedeuten und Du bist mein liebster Stellvertreter-Suizidant, echt, obwohl der Kurt war auch toll. Quizmaster: Noch 10 Sekunden. Kandidat: Ach so, ja dann. Die Frage ist "Wieso sind wir so getrieben, alles nach einer Seite hin aufzulösen zu müssen". Ich weiss das, kann's aber nicht erklären. Quizmaster: Noch 5 Sekunden. Dave: Ganz klar, das Fundament der westlichen Zivilisation ist das LEM, die Mitte ist ausgeschlossen, Du weisst schon, das DiLEMma, die Sache mit AristoTRÖÖÖÖÖT. Moderator: Die Sirene, Ihre Zeit ist abgelaufen. Und, Ihre Antwort? Kandidat: Ja, nun, das LEM, das LEM, ich denk' dabei ja immer an den Stanislaw, und ich hab da doch diese Gedankenbrücke, LEM, LEM, Also sprach GoLEM, und dann die Folge in The Prisoner, als er die allwissende Rechenmaschine gecrasht hat, indem er sie gefragt hat, welche Frage sie nicht beantworten kann, und da war die Sache mit Gott und dem Gewicht, tja. Quizmaster: Die Antwort bitte. Kandidat: Was der Foster Wallace, also der Dave meint, ist, dass in uns so, so hardwaremäßig jetzt, verdrahtet ist, dass wir keine Mitte ertragen, also weil das LEM, also das Law of the Excluded Middle, quasi der Quellcode unserer Zivilisation ist, und wir deswegen Uneindeutigkeit einfach nicht ertragen können. Also, das DiLEMma treibt uns, die Flechten aufdröseln zu wollen, genau. Quizmaster: Da hat der Jenseits-Joker aber mal so richtig gestochen, herzlichen Glückwunsch. Langer Rede kurzer Sinn: Das Skepsis-Reservat hegt und pflegt die unendlichen Schattierungen zwischen schwarz und weiß. Wir wollen nichts auflösen. Klar, Zweifel und Glauben sind Pole, aber dazwischen liegen die unendlichen Weiten unerschlossener Möglichkeitsräume. Besser noch, wir erfinden diese Räume. Und lassen die Blasen wieder zerplatzen, die wir erfunden haben. Jau, für uns ist das alles ein todernstes lustiges Spiel. Und wenn wir mal glauben wollen, dann glauben wir einfach. Können wir als souveräne Wesen nämlich, die Überheblichkeit gestatten wir uns. Wissen Sie, was ich glaube? Sie fühlen sich als gläubiger und in Zweiwertigkeit befangener Konstruktivist auf den Schlips getreten und sind, mit Verlaub, ein wenig angepisst. Find ich Klasse. Darum geht es uns im Skepsis-Reservat nämlich. In den besten Momenten predigen wir nicht nur zu den Bekehrten, sondern bringen gerade die Bekehrten zum Nachdenken. Wobei wir, und das möchte ich nachdrücklich betonen, uns ausdrücklich nicht ausnehmen. Auch wenn es allzuklar ist: Die Selbstkritik in unserer Wendung gegen den Katheder-Konstruktivismus dürfte wohl angekommen sein. Und, natürlich, wir inszenieren uns als das kleine gallische Dorf, das den Zaubertrank mit dem Geheimnis des wahren Konstruktivismus hütet. Und Artus ist der Gralswächter, um mal einen unserer Injokes zu platzieren. Was der echte Konstruktivismus ist? Das Wissen nur Konstruktivisten, die glauben, Konstruktivismus wäre durch Zahlen, Daten und Fakten zu begründen. Diese Art von Erfindungsgabe haben, oder besser, wollen und brauchen wir nicht. Für uns ist der Konstruktivismus ethische Praxis, weil wir nichts, und schon gar nicht uns selbst, glauben können. Aber das glauben wir selbstverständlich felsenfest, um noch einmal eine Schleife zu den Flechten zu machen. Habe ich damit auch Ihre Eingangsfrage hinreichend beantworten können? Wir beschäftigen uns mit erkenntnistheoretischen Fragen, weil es eine Unmöglichkeit ist, sie zu beantworten. Fragen, die beantwortet werden können, interessieren uns nämlich nicht.

Hochachtungsvoll,
Ihre Edna Lemgo

Wozu alles?&xnbsp;Die Menschen lernen ja doch nichts.
Zweistromland, ca. 2500 v. Chr.



Erstellt: 2. November 2010 – letzte Überarbeitung: 10. November 2010
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie weitere Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.