BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Eine erkenntnistheoretische Spielerei: ‹Wie viele Tische?›»
von Albertine Devilder
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Schauen, müssen wir mit Schlüssen, der Erfindung, vorher.»
(Friedrich Hölderlin: Patmos, letzte Fassung)

Soziale Konstruktivistinnen haben es ja mit der ‹Wirklichkeit›, sie erfreuen sich – oder auch nicht – an all dem, was andere Menschen für ‹wirklich› halten und auch auszusprechen wagen – und sie erfinden selbst gerne Welten, von denen sie träumen, sie seien ‹wirklich›. Und besonders fasziniert sind sie von den Möglichkeiten, die die Menschen bei der sprachlichen Umschreibung ihrer Welt sinn- und nutzlos vertun und vergeben. Kurz: Erkenntnistheorie und Epistemologie sowie ein gesunder Sprachskeptizismus sind unsere Leib- und Magenfächer, hier, so glauben wir, liegt das theoretische und philosophische Rüstzeug, mit dem wir munter und frei fast allen den Problemen begegnen können, die uns mitunter zur Last fallen.

Ich muß nicht betonen, daß epistemologische Fragen sowie Bedenken gegenüber den Möglichkeiten, mit Hilfe von Sprache die Welt definieren zu können, vom so genannten ‹Gesunden Menschenverstand› nicht verstanden, ja, nicht einmal erahnt werden. Es gibt fast keine Institutionen mehr, die ein ‹Propädeuticum et Vademecum Epistemologicum› anbieten würden, denn die Medien sind zu 99 % in den Händen der Bildungsunwilligen, die Universitäten sind zu Fachschulen geworden, und die vielen lieben Studierenden müssen sich mit ihren ständig wiederkehrenden Multiple-Choice-Tests mal wieder beeilen, um große zukünftige ‹Herausforderungen› annehmen zu können. So weit, so schlecht.

Weil das nun einmal so ist, weil wir epistemologische Fragen mit immer weniger interessierten Menschen («Ich hab das bei Rewe aber billiger gesehen!») diskurrieren können, weil unsere epistemologische und damit existentielle Einsamkeit immer größer wird, ist die Freude um so schäumender, wenn wir auf eine erkenntnistheoretische Spielerei stoßen, die uns anregt und uns für eine kleine Weile die ‹wirkliche› Welt der Anderen vergessen läßt. Und das kam so.

Ich hatte eine Referendarin zu Gast, die beim Stöbern in meiner unerschöpflichen Bibliothek plötzlich und durch Zufall entdeckte, daß in den Regalen auch in der zweiten Reihe Bücher zu finden waren (Nun, das ist leider so, es ist einfach nicht genügend Platz vorhanden). In diesem Fall jedoch erspähte die nette Referendarin ‹hinter den Büchern› die ersten zehn Bände der ganz wunderbaren Zeitschrift ‹Sinn und Form – Beiträge zur Literatur› in einer Reprint-Ausgabe und wandte sich ziemlich empört an mich mit der Frage, wie man oder frau denn so eine tolle Zeitschrift gleichsam verbergen könne und ob das daran liege, daß diese überragende Literatur-Zeitschrift in der DDR erschienen sei!? Nun, einigermaßen schuldbewußt, versprach ich ihr sogleich, diese Bände bei der nächsten Gelegenheit ‹nach vorne zu holen›. Gesagt, getan, doch dann entdeckte ich am nächsten Tag beim Umräumen ein weiteres Buch, das sich noch hinter der zweiten Buchreihe, hinter ‹Sinn und Form› verborgen hatte, völlig verstaubt und vergessen.

Und um dieses Buch geht es hier. Es ist von Rudolf Steiner, heißt ‹Die Philosophie der Freiheit› und ist im 10. - 19. Tausend im Jahr 1921 erschienen. Und dort finde ich in einem ‹Ersten Anhang› auf der Seite 274 – im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Eduard von Hartmanns ‹Die letzten Fragen der Erkenntnistheorie und Metaphysik› – diesen Satz, diese Frage:
«Wenn drei Personen an einem Tisch sitzen, wieviel Exemplare des Tisches sind vorhanden?»
Ist das nicht eine tolle, eine extraordinäre Frage? Ach, hätte ich doch über diese in meinen vielen universitären Veranstaltungen zur Wissenschaftstheorie verfügen können! Nicht, daß ich da sprach- oder einfallslos gewesen war, nein, aber diese Kürze, diese Eleganz der Frage, die alle unsere epistemologischen Probleme mit uns und der Welt zusammen preßt, wie einer der großartigen Aphorismen von Karl Kraus. Noch einmal:
«Wenn drei Personen an einem Tisch sitzen, wieviel Exemplare des Tisches sind vorhanden?»
Tja, was meinen Sie, lieber Leser, liebe Leserin. Da Sie sich auf diese Seite verirrt und dieses Traktätchen gar bis zu dieser Stelle gelesen haben, werden Sie als Antwort vermutlich nicht «Ein Exemplar!» rufen, obwohl da ja ‹wirklich› nur ein Tisch vorhanden ist, hehe. Richtig? Ja, denn dann dürften Sie sich mit Fug und Recht als ‹naive Realistin› bezeichnen. Sie sollten sich aber auch bitte klar machen, wie seltsam Sie angesehen werden würden, sollten Sie einmal in einer fröhlichen Runde ‹naiver Realisten› im Rahmen dieser Spielerei von der Antwort «Ein Exemplar!» abweichen. Machen Sie das lieber nicht, vor allem nicht in Anwesenheit eines Nervenarztes!

Gehen wir weiter: Wie wäre es mit der Antwort «Drei Exemplare»? Nicht schlecht, die Antwort würde mir gefallen. Sie bedeutet: Wenn drei Leute an einem Tisch sitzen, existieren drei Exemplare dieses Tisches, denn jeder einzelne der drei Köpfe konstruiert in seinem Bewußtsein sein eigenes Bild von dem Tisch. Obwohl natürlich physisch nur ein Objekt vorhanden ist, das in einem bestimmten sozialen Raum gemeinhin als Tisch bezeichnet wird.

Wie wäre es aber mit der Antwort «Vier Exemplare»? Auch nicht schlecht, die Antwort gefällt mir ebenfalls. Sie bedeutet: Wenn drei Leute an einem Tisch sitzen, existieren vier Exemplare dieses Tisches, denn jeder der drei Köpfe konstruiert in seinem Bewußtsein sein eigenes Bild von dem Tisch, und dazu kommt noch – Kant sei Dank – eine Vorstellung vom ‹Tisch an sich›, eine Vision, eine Art Prototyp, eine kulturelle Schablone, die von allen drei Köpfen geteilt wird. Obwohl natürlich physisch nur ein Objekt vorhanden ist, das in einem bestimmten sozialen Raum gemeinhin als Tisch bezeichnet wird.

Ist das nicht ein wunderbares Beispiel dafür, welche Freuden mit dem Nachdenken über epistemologische Fragen verbunden sind? ‹Naive Realisten›, also etwa alle diejenigen, die kraftvoll unser Land in eine gute Zukunft führen, und all diejenigen, die davon nicht viel mitkriegen, sind Zeit ihres Lebens eingesperrt in die zweifelhafte Erkenntnis, daß ihre Sinnesorgane über einen schlichten, ja, mühelosen spiegelbildlichen Zugang zur Außenwelt verfügen. Und wenn ein solcher ‹Naiver Realist› ein Exemplar eines Tisches sieht, dann sieht er eben ein Exemplar eines Tisches und sonst nix. Und andere Leute haben gefälligst dasselbe zu sehen, wie er. Was klar ist, ist klar, über alles andere muß man gar nicht reden. Drei Exemplare? Pff!

Der ‹Sozialen Konstruktivistin› aber eröffnen sich ganz andere Möglichkeiten, sie kann über Idealismus und Konstruktivismus, über Realismus und Skeptizismus nachdenken und ist bei allen schönen Fragen immer mit mehreren Antworten bei der Hand. Wenn drei Personen an einem Tisch sitzen, sind dann drei oder vier Exemplare dieses Tisches vorhanden? Ach, ein Königreich für eine Frage, die gleichsam als Koan unser Denken beflügelt! Und über Antworten kann man sprechen. Immer wieder!



Erstellt: 7. Juli 2009 – letzte Überarbeitung: 7. Juli 2009
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