BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Weltbewältigung: Ein Sammelreferat»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2013)
von Artus P. Feldmann & der Redaktion der ‹Bochumer Arbeitsgruppe›
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Prolog

Menschen, die gerne von sich behaupten, über einen ‹gesunden Menschenverstand› zu verfügen und der Welt als ‹Realist› gegenüberzutreten, und Menschen, die dem ‹Sozialen Konstruktivismus› zugeneigt sind und der Welt mit Skepsis begegnen, unterscheiden sich erheblich in ihrem Weltzugang und in ihrer ‹Weltbewältigung›. [1] So der Titel eines Buches von Hans Müller-Eckhard, erschienen 1959 im Ernst Klett Verlag, Stuttgart. Sie denken und leben unterschiedlich, obwohl sie alle Insassen eines überwiegend gleichen oder ähnlichen Makroraumes sind.

Die ‹Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung› hat über viele Jahre hinweg in vielen Traktaten und Essays versucht, die Unterschiede zwischen dem ‹breiten› Weg, den der ‹gesunde Menschenverstand› im finalen Kapitalismus bereitwillig oder notgedrungen geht, und dem ‹schmalen› Weg der ‹happy few› zu dekonstruieren. Und da uns immer wieder freundliche Mails mit der Frage erreichen, worauf wir eigentlich mit unseren vielen Erörterungen hinaus wollten, oder welche Ideologie wir nun wirklich verträten, fassen wir eine Reihe unserer Gedanken in diesem Sammelreferat zusammen. Dabei offenbaren wir nicht nur unser konstruktivistisches Grundkonzept, unsere Psychologie von der Person, unsere kulturphysiognomische Beobachtungsleidenschaft, sondern auch unser Leiden unter den Zeitläuften und unsere kognitive Verzweiflung in all den Standard-Situationen und überdefinierten Kontexten, in denen wir – freiwillig oder unfreiwillig – in die Nähe von Menschen mit einem ‹gesunden Menschenverstand› geraten.


Weltzugang: Wahrheit oder Zweifel

Schauen wir uns zunächst den epistemologischen Weltzugang des ‹gesunden Menschenverstandes› an. Dazu ist zu bemerken, daß ein Mensch mit einem ‹gesunden Menschenverstand› das Wort ‹Epistemologie› nicht versteht, und sei er ein hoch dekorierter Professor für Psychologie. Und bei dem Versuch, ihm die Bedeutung desselben nahe zu bringen, feixt er, denn er meint, ‹die Welt liege doch gleichsam vor ihm.› Und er fragt: ‹Warum tut ihr immer so, als könnte man die Welt nicht sehen und erkennen?› Und dann hält er seine Kaffeetasse in die Luft und witzelt: ‹Gleich erklären Sie mir, daß diese Tasse gar nicht da ist, hahaha!› Denn für den Professor wie für den ‹gesunden Menschenverstand› ist eines völlig klar: ‹Sprache dient dazu, die Wirklichkeit abzubilden›. Punkt. Schluß. Ja, da ist eine Mauer. Unbedingt. Albertine Devilder schreibt dazu in ihrem Traktat ‹Konstruktivismus und der gesunde Menschenverstand› dies:

«Was bei einem Menschen mit einem ‹gesunden› Menschenverstand als allererstes auffällt, ist sein fragloses ‹In der Welt Sein›. Dieser Mensch läßt sich nicht irre machen. […] Als naiver Realist hält er das, was er an Meinungen und Urteilen über sich und die ihn umgebende Welt hervor bringt, für wirklich. Schlimmer noch: Er glaubt, daß das, was er über die Welt sagt, nicht nur etwas mit eben dieser Welt zu tun habe, sondern sich auch der Wahrheit nähere. Denn ‹naive› Realisten mit ihrem ‹gesunden› Menschenverstand ‹tragen ein ‹Sortiment von Wörtern mit sich herum›, welches wir, mit Richard Rorty [2] Richard Rorty (1992): Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main: Suhrkamp., als das ‹abschließende Vokabular› einer Person bezeichnen können.»

Auf dem breiten Weg, den der ‹gesunde Menschenverstand› geht, hat jedes ‹Ding› seinen Namen, für jede Lebensaufgabe gibt es eine ‹Info› oder ein ‹Rezept›, und wenn man nicht mehr weiter weiß, geht man zum Arzt, um die ‹Wahrheit› zu erfahren. Das ‹abschließende Vokabular› – ist diese Bezeichnung nicht ganz wunderbar gewählt? – eines jeden Kulturinsassen der Jetztzeit kennt ausdrücklich Sprachfetzen wie ‹Das muß ich nicht haben!›, ‹Vom Preis-Leistungsverhältnis her war das echt ein Schnäppchen!›, ‹Ich bin nicht bereit, Phantasiepreise zu zahlen!› oder einem raunenden ‹Wenn hier die Gutmenschen das Sagen kriegen, dann Gute Nacht Deutschland!›

Kontrastieren wir die Epistemologie aller ‹normalen› und ‹gesunden› Menschen mit der unsrigen. Albertine Devilder sagt dazu in dem oben genannten Essay:

«Eine Konstruktivistin unterscheidet sich von einem ‹naiven› Realisten mit seinem ‹gesunden› Menschenverstand in mehreren wesentlichen Punkten. Zunächst einmal ist sie eine radikal-skeptische Nominalistin. Sie ist zwar davon überzeugt, daß da draußen in der Welt allerlei ist, daß wir aber mit Hilfe von Wörtern nicht an die Essenz, an die eigentliche Natur dessen, was da draußen ist, herankommen. Sie zweifelt also an den Wörtern, die so leichtfertig in den verschiedenen sozialen Räumen herumgereicht werden. […] Eine Konstruktivistin würde (zum zweiten) niemals von der Wahrheit sprechen. Sie ist davon überzeugt, daß es, je nach Zeit und sozialem Raum, mehrere Wahrheiten gibt. Damit sind wir bei einem dritten wesentlichen Punkt, dem Historismus. Eine Konstruktivistin vermutet, daß Wahrheiten sich über die Zeit hinweg je unterschiedlich entwickeln, und daß Wahrheiten immer in Kulturen, also in Räumen, in denen Menschen zusammen leben, eingebettet sind.»

Diese beiden sehr unterschiedlichen Weltzugänge führen zu unterschiedlichen Formen der Weltbewältigung. Das schauen wir uns an, weil wir dem einen Zugang nur selten entgehen können, ihn oft aushalten müssen. Gut zu wissen, was da immer wieder auf uns zu kommt.


Weltbewältigung: Diskussion oder Diskurs

Die Epistemologie des ‹gesunden Menschenverstandes›, der an seinen Meinungen und Urteilen so gerne festhält, ist arg auf Wahrheiten bezogen, die Epistemologie aller KonstruktivistInnen auf Zweifel. Daraus ergeben sich Diskussionen oder Diskurse.

Treffen wir auf Menschen mit einem ‹gesunden Menschenverstand›, entdecken wir, daß die von ihnen veranstalteten Diskurse als Diskussionen daher kommen, also unliterarisch, umphilosophisch und unästhetisch: Es geht immer um die Fakten in dieser Welt, wer mit seinen Fakten Recht hat, und wie man selbst am besten mit diesen Fakten zurecht kommt und sie sich zu nutze macht. Es geht um nichts ‹Höheres›, es geht um die ‹die Suprematie des Unwesentlichen›. Tagtäglich lassen sich die Resultate dieser Fakten-Verblendung in zigtausend Kommentaren in den allfälligen Internet-Foren aufzeigen. Diese Forenbeiträge definieren als Meinungen in ermüdender Weise immer und immer wiederkehrend den im eigenen sozialen Raum definierten zyklopischen Blick auf die Welt, und dies noch in einer hilfsbedürftigen Sprache und mit einer vehementen Gehässigkeit. Es sind Meinungen, also Hilferufe aus dem ‹Faktenkerker›. Und von Gedanken keine Spur.

Gut, Forenbeiträge und die allfälligen sinnlosen Kommentare zu welcher Nachricht auch immer, können wir als Angehörige der ‹happy few› ignorieren, so wie wir aus psychohygienischen Gründen auf die ‹schlimmste Lichtquelle der Welt› verzichten. Arger wird es, wenn wir aus Höflichkeit oder Nachsicht in eine Diskussion mit einem ‹gesunden Menschenverstand› hinein geraten oder gar in ein ‹Unerfreuliches Gespräch› verwickelt werden. Albertine Devilder hat es untersucht:

«Da sprechen also zwei oder mehr Leute miteinander, aber sie sprechen eben nicht miteinander, denn einer dominiert mit einem nervigen Monologisieren, mit apodiktischen Urteilen oder sinnlosem, wahllosem, automatischen Widersprechen. Einer im sozialen Raum des Gespräches nimmt sich das für ihn wohl selbstverständlich erscheinende Recht, den Diskurs nach seinen Gewohnheiten gestalten zu dürfen - und der oder die anderen sind keine ‹Gesprächspartner›, nicht einmal ‹Gesprächsteilnehmer› oder ‹Gesprächssteilhaber›, nein, sie sind Staffage und werden geduldet als Claqueure.»

Um uns zu erholen, fragen wir uns schnell: Was wäre ein ideales Gespräch? Albertine Devilder sagt es so:

«Nun, (es wäre) ein wechselseitiges Geben, ein Schenken, ein Verschenken von Sprachfiguren, Ideen und Weisen der Welterzeugung. Denn was ist schöner, als mit Menschen, die man schätzt, sprechend das Große und Eigentliche zu suchen? Wunderbares Versprechen des Gesprächs: Suchen, sehnen, forschen, die Welt beschreiben, umschreiben, erfinden - mit Worten. Das Gespräch als Oase, als Sanktuarium, als Zufluchtsort und Freistatt? Ja.»

Eine Steigerung dieser unerfreulichen Gespräche zeigt sich, wenn wir in eine Diskussion mit einem prototypischen ‹Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann› geraten, dem ausgeprägtesten und unangenehmsten Repräsentanten und Verfechter des ‹gesunden Menschenverstandes›. Albertine Devilder und Henriette Orheim haben diesen Zeitgenossen umfassend analysiert:

«Der «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann» meint, sehr viel zu wissen. Dabei sind die beherrschten und gewußten Themen – je nach sozialem Raum – zwar nicht allumfassend, aber doch immer äußerst weitläufig. Ja, jeder Mann weiß eigentlich mehr, als er wissen kann. Und wenn er etwas weiß, dann zweifelt er nicht. Das heißt, daß die Geste des Wissens immer mit einer selbstwertbezogenen Deutlichkeit transportiert wird: Die eigene Weltsicht ist die normale, vernünftige, richtige und überlegene, andere Menschen haben leider keine Ahnung. Denn der «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann» kennt halt die ‹Tatsachen› und ‹Fakten›, er ist informiert, er verläßt sich auf sein sicheres ‹Urteil›. Interessant und bezeichnend sind nun nicht die vielen kleinen unbeirrbaren Rechthabereien, sondern das dahinter stehende geschlossene Weltbild.»

Lesen Sie die genaue und vielfältige Analyse über diese Zeitgenossen, denen wir in Internet-Foren entgehen können, aber leider nicht immer im Alltag.

Ebenso unerfreulich ist es, wenn wir in Diskursen mit dem ‹gesunden Menschenverstand› entdecken, daß das Gesagte überhaupt nichts mit der vorgeblichen Wirklichkeit zu tun hat. Da reden Leute etwas - «Du weißt doch, ich habe noch nie auf den Preis geachtet!» – und alle wissen, daß das ganz offensichtlich nicht stimmt. Das ist erstaunlich. Dann denken wir an die ‹Lehre vom Gegenteil›, die Albertine Devilder, Henriette Orheim und Lisa Blausonne so schön beschrieben haben:

«Auffällig ist nun unbedingt, daß sich eine Lebensäußerung der oben beschriebenen Art nicht auf das eigene Tun bezieht, denn dies unterscheidet sich wesentlich vom Gesagten. Ja, das eigene Tun hat in ganz krasser, nicht zu übersehender Weise mit dem Sprechen darüber nichts zu tun, zwischen dem Verhalten und der Rede über das Verhalten besteht kein Zusammenhang. […] Wir möchten dieses Phänomen ein mangelhaftes ‹Selbst-Monitoring› nennen. Da gibt es Personen-Systeme, die sich – punktuell zumindest – in unübersehbarer Weise nicht selbst beobachten und somit keinen Zugang zu dem haben, was sie tun. Sie können nicht aus sich hinaussteigen, um sich von einer Metaebene aus zu betrachten. […] Deswegen hören wir auch oft Formulierungen wie ‹überhaupt nicht›, ‹niemals›, ‹völlig› oder ‹immer›. Diese adverbialen Maximalia sind in der ‹Lehre vom Gegenteil› von großer Bedeutung.»

Fassen wir zusammen: Wird ein Angehöriger der ‹happy few› aktuell in Diskussionen, oder in ‹Unerfreuliche Gespräche› verwickelt oder mit der gelebten ‹Lehre vom Gegenteil› belästigt, bleibt nur die Höflichkeit. Eine Konstruktivistin kann zu all den Wirklichkeits- und Wahrheitsbehauptungen nichts sagen, Meinungen langweilen sie, weil jede Meinung ja ihren Widerspruch schon in sich trägt.


Weltbewältigung: Verzweiflung oder Skeptizismus

Helmut Hansen hat in einem sehr schönen Essay die Konsequenzen untersucht, die sich aus den beiden verschiedenen Weltzugängen ergeben:

«Geknechtet von einer Suprematie des Unwesentlichen, eingebunden in unerfreuliche Gespräche, nicht in der Lage, Ereignisse aus dem eigenen Lebensbereich abstrakt zusammenfassen und beleuchten zu können und ohne ein ausgeprägtes Selbstbeobachtungssystem steht eine normale Kulturinsassin vor dem ergreifenden Erlebnis, daß die Wörter, mit denen sie die Welt zu greifen versucht, nicht greifen.»

Das ist es. Der vermeintlich ‹gesunde Menschenverstand›, der so meinungsstark und selbstsicher ist, was macht er, wenn seine Wörter nicht mehr weiter helfen, wenn seine Weltabbildungsversuche scheitern? Helmut Hansen sagt:

«Wo soll denn Verzweiflung entstehen, wenn nicht in der Normalität, in der Selbstverständlichkeit, in der Kommunikationsunfähigkeit, in der Sprachlosigkeit, kurz, in einer plausiblen Welt? Wo wird denn schon eine ganze Familie ‹ausgelöscht›, wenn nicht in einem Reiheneigenheim? Und wer ‹löscht› denn schon seine ganze Familie aus, wenn nicht ein überaus achtbarer, untadeliger, freundlicher, höflicher, hilfsbereiter und unauffälliger Mensch, der nie Ärger gemacht hat, ein ganz normaler Mensch also ‹wie du und ich›, der immer freundlich gegrüßt hat, sich dem TV ergab und sein Weltwissen der größten ‹Schmierlappenzeitung› dieses Landes entnahm?»

Ja, Verzweiflung oder Skeptizismus. Wir schlagen uns auf die zweite Seite. Helmut Hansen hat in seinem profunden Essay ‹Skeptizismus und Sozialer Konstruktivismus› gezeigt, wo die Wurzeln des Skeptizismus liegen und wie ‹Soziale Konstruktivistinnen› heute das Leuchtfeuer des Skeptizismus weiter tragen. Er sagt:

«Aus einem ‹sozial-konstruktivistischen› Denken erwächst nun eine Skepsis, eine Haltung zur Welt, die wir als achtsame Zurückhaltung, als Ungläubigkeit bezeichnen könnten. Wobei eines unserer Steckenpferde darin besteht, immer wieder auf die geringen Möglichkeiten zu verweisen, mit Hilfe von Sprache auf die Welt zeigen zu wollen.»

Und um das ‹Sozial-Konstruktivistische› am ‹Sozialen Konstruktivismus› noch einmal besonders hervorzuheben, um unsere Grund-Ideologie noch einmal ganz deutlich auszusprechen, zitieren wir aus Albertine Devilders Traktat ‹Konstruktivismus: Die Epistemologie der Postmoderne›:

«Wir gehen an die vermeintlich «da draußen» objektiv bestehende Wirklichkeit immer mit einem bestimmten Habitus, einer spezifischen, kulturell, sozial und kommunal definierten Haltung, mit Gewohnheiten, mit gewissen Grundannahmen, mit Mustern, Kategorien, Schemata, Begriffen und Worten heran. Und diese Schemata halten wir gewöhnlich für bereits feststehende objektive Aspekte der Wirklichkeit, während sie doch nur die Folgen der Art und Weise sind, in der wir nach der Wirklichkeit suchen. Durch unser Hineingeborenwerden in eine bestimmte Kulturepoche und in bestimmte soziale Systeme existieren wir also zu einem sehr großen Teil bereits, bevor wir selbst als Person zum Zuge kommen.»

Vermutlich sind die unfertigen oder völlig fehlenden Selbstbeobachtungsmöglichkeiten des ‹gesunden Menschenverstandes› eine wichtige Ursache für seine mangelnde Weltbewältigung. Immer wieder muß er ‹konkret› wiederholend erzählen, was ihm soeben widerfahren ist. Da gibt es keinen Ausweg, keine Rettung, keine Ordnung, keine Abstraktion, kein Darüber-Hinaus-Gehen. Wer nie von einer Wirklichkeitsebene 2. Ordnung gehört hat, wer nie den Segen erlebt hat, was es heißt, eine ‹konkrete› Wirklichkeitsebene verlassen zu können, um achtsam und sorgfältig sich als Beobachter der eigenen Person und des sozialen Raumes einzusetzen, der ist in seiner Bewältigung der Welt unfertig bis verloren.


Weltbewältigung: ‹Ich› oder ‹Personenperson›

Die ‹Bochumer Arbeitsgruppe› hat seit Beginn ihres segensreichen Wirkens immer wieder über das von den ‹Herren des Wörterbuchs› im finalen Kapitalismus bereitwillig eingeräumte und propagierte spätmodernde ‹Ich› nachgedacht: So gibt es im Skepsis-Reservat Traktate mit den Titeln ‹Das ‹Ich› als Benutzeroberfläche›, ‹So viel ‹Ich› war nie!›, ‹Als ‹Ich› in der Dienstleistungsgesellschaft›, ‹Neo-Individualliberalismus› und das spätmoderne ‹Ich›› und ‹Als ‹Ich› in den Nullerjahren›. Darüber hinaus haben wir in unserem Arbeitspapier Nr 15 sehr sorgfältig das spätmoderne ‹Ich› in seiner ‹Arbeitsumgebung› untersucht.

In zwei Beiträgen für die ‹Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung› haben wir mit der modernen ‹Legende vom ‹reflexiven Ich›› aufgeräumt und eine ‹Anathematisierung des Selbst› vorgeschlagen. Nun, das ist starker Tobak für den ‹gesunden Menschenverstand›, der das letzte, was ihm in diesen wirren Zeiten vermeintlich sicher bleibt, sein Selbst, nicht anzweifeln möchte. In der ‹Legende vom ‹reflexiven Ich› heisst es:

«Sich selbst thematisieren – kann jeder. Aus seinem vermeintlichen ‹Ich› heraus Ansprüche anmelden – kann jeder. Doch über sich selbst reflektieren, ein Monitorsystem für sich selbst etablieren, ja, auf sich selbst und andere Acht geben oder gar über sein ‹Ich› hinaus gehen – kann kaum einer. […] Das Ergebnis der Subjektkonstruktion in der Spätmoderne läßt sich ziemlich gut beschreiben, denn unser Gesellschaftsmodell des finalen Kapitalismus produziert Menschen, die davon überzeugt sind, ein einzigartiges ‹Ich› zu haben und dies permanent thematisieren zu dürfen. Doch Selbstthematisierung setzt ein ‹Selbst› voraus. Die Frage ist also: Wer thematisiert? Das ‹Ich› oder die Gesellschaft? Das ‹Ich› oder die Zentralrede vom ‹Ich›? Das ‹Ich› oder der ‹Common-Sense›? Wir haben die Frage für uns beantwortet.»

Und in der ‹Anathematisierung des Selbst› schreiben wir:

«Das abschließende Ziel einer Thematisierung des Selbst hätte demnach die Verwindung eben dieses Selbst zu sein. Mit anderen Worten: Wir sollten alles dafür tun, uns irgendwie vom Selbst zu emanzipieren. Dazu gilt es zunächst zu verstehen, dass das Selbst, um das letztlich unsere ganze Persönlichkeit kreist, eine ziemlich perfide Illusion ist. Sie wurde uns früher - als wir uns noch weniger wehren konnten - mit aller Macht eingetrichtert, um uns am Ring falschen Begehrens durch die gesellschaftliche Manege zu führen. So erfordert es letztlich nicht die Thematisierung, sondern vielmehr die Anathematisierung - die Bannung des Selbst. Sicher, unsere Selbstverliebtheit ist die protektive Illusion, die unser Ich stabil hält. Bevor wir aber mal wieder unser Leben ändern, weil wir mit uns selbst nicht klar kommen, sollten wir lieber versuchen, unser Selbst zu vergessen.»

Wir haben als Alternative zu dem essentialistischen und das ‹Ich› ja immer wieder reifizierenden ‹Ich›-Kult der Spätmoderne («Unterm Strich zähl Ich!») das Konzept einer Personenperson entworfen und in den ‹Skizzen zu einer sozial-konstruktivistischen Psychologie› vorgestellt. Wir möchten die dortige ausführliche Darstellung hier nicht andeuten, sondern das Konzept – mit Albertine Devilders ‹Die Welt als Bühne - die Menschen als Schauspieler› – aus einem etwas anderen Blickwinkel anschauen:

«Betrachten wir uns die klassisch-soziologischen Rollendefinitionen in der Moderne, dann sehen wir, daß hier die Affordanzen, die Aufforderungsgehalte, die sozialen Notwendigkeiten in sozialen Räumen zwar erkannt und die unterschiedlichen Verhaltensweisen einer Person je Position, Status und Raum wohl beobachtet werden, daß aber hinter all dem sich unterscheidenden Sozialverhalten einer Person dennoch ein ‹wahrer› Wesenskern, ein Charakter, ein Behälter mit einer Fülle ‹wahrer› Eigenschaften und Merkmale hypostasiert wird. Erstaunlicherweise wird diese moderne Selbstverständlichkeit aber nie thematisiert, da sie eben so selbstverständlich ist.

Im sozialen Konstruktivismus Bochumer Prägung […] steht die aufregende Vermutung, daß wir als Personenperson zwar auch auf Affordanzen, Aufforderungsgehalte und soziale Notwendigkeiten in sozialen Räumen reagieren, daß wir dann jedoch die auf der Drehbühne unserer Personen gerade erscheinende jeweilige Person ‹wirklich› sind. Dahinter steht unserer Auffassung nach keine Personen-CPU, keine Überperson, die angeblich die Fäden in der Hand hält, kein Sack voller Eigenschaften und auch kein Sammelsurium von Motiven. Wir sind das, was wir spielen. Wie gehen und blühen in unseren Rollen auf. Wir sind die Rollen! Um auf das gute, alte, romantische, gesprächspsychotherapeutische Wort von der ‹Selbstverwirklichung› zu schauen: Wir verwirklichen ‹uns selbst› nicht in einem tiefen, inneren Kern, einem ‹Eigentlichen›, einem ‹Wesen›, nein, wir verwirklichen uns in den verschiedenen und intensiv gespielten Rollen, die uns gut tun: Als Vorleser, Schreiber, Musiker, Liebhaber etc. Wir sind die Rollen.»



Weltbewältigung: Das eigentliche und das uneigentliche Leben

Müssen wir noch viele Worte machen, lieber Leser, liebe Leserin? Ist klar, worauf wir in unseren vielen Schreibbemühungen hinaus wollen? Ja, es geht um das eigentliche und uneigentliche Leben. Ein uneigentliches Leben besteht überwiegend daraus, sich nicht nur mit dem Lauf der Zeit, der ‹Merkatokratie›, dem finalen Kapitalismus, abzufinden und mit diesem Schritt zu halten, sondern sich in diesem, wo immer es möglich ist, einzurichten und sich ihn – in cleverer Weise – zu Nutze zu machen. Man ist ja nicht blöd! Und wenn wir Gespräche von Menschen mit einem ‹gesunden Menschenverstand› ernst nehmen, gibt es eigentlich nur ein Thema der Weltbewältigung: Den schlauen Umgang mit Preisvorteilen aller Art als endgültige ‹Ich›-Protuberanz. Mehr ist nicht drin. Es geht um Geld.

Ein eigentliches Leben besteht unserer Überzeugung nach aus mehr, es geht um Wahrheit. Wahrheit über das eigene Leben und das Leben der anderen, Wahrheit über die Welt. Die ‹happy few›, meist Künstler, Musiker, Forscher, Philosophen und Schriftsteller, suchen die Wahrheit, streben nach Wahrheit, aber sie finden sie nicht. Immer wenn sie in ihrer Weltbewältigung glauben, die Wahrheit in einem Text, einem Bild, einem Musikstück eingefangen zu haben, entschlüpft sie wieder. Der ‹gesunde Menschenverstand› hat im Gegensatz dazu seine Wahrheit jederzeit dabei. Und natürlich besteht ein eigentliches Leben aus Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst, anderen Lebewesen und den Räumen, in denen diese leben. Der ‹gesunde Menschenverstand› macht sich dagegen die Erde so lange untertan, bis diese, und alles was auf dieser lebt, nicht mehr zu erkennen sein wird.

Ein weiser Ratgeber der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› hat der Redaktion einmal an einem denkwürdigen Abend erklärt, daß man im Leben entweder nach Geld oder nach Wahrheit streben könne, und es nur ganz wenigen Menschen vergönnt sei, diese beiden Strebungen mit einander verbinden zu können. Wir haben in der Redaktion viel darüber nachgedacht, und im Laufe der Zeit wurde unsere Zustimmung zu diesem kruden Gegensatz immer größer. Es geht also beim Vergleich zwischen einem eigentlichen und einem uneigentlichen Leben nicht um ‹Geld oder Leben›, sondern um ‹Geld oder Wahrheit›. Was ‹Geld› ist, scheint ein jeder zu wissen. Das Schöne ist nun, daß wir unsere ‹Wahrheit› selbst erfinden dürfen.



Ins Netz gestellt am 16. Dezember 2013
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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