BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Der 'Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann'»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2014)
von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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They speak a sober language, men who know,
that this and that is so and so.
They know, they're sure – but I am not.
I have nothing but a no acknowledged style,
and no flattering smile.

The knowers say they know us you and me,
telling us what to feel and what to be.
They offer me competitive truths,
each one truer than the other truths.

One voice says no, another one says yes!
How shall I guess?
How shall I know?
I have to grow to yes or no.

They're sure they know, I live to grow,
into the algebra of this
my nothingness or fullness,
anyway:
The road which I must go, not what they say.
(Anonym)

1. Einführung

Lieber Leser, liebe Leserin, Sie meinen, über Männer hätten wir schon genug geschrieben? Und es gäbe eigentlich nix mehr zu sagen? Na ja, könnte sein. Denn schließlich hat die Bochumer Arbeitsgruppe schon vor Jahren ‹Männer› über die Kulturepochen von Romantik, Moderne und Postmoderne dekliniert und dabei verschiedene ‹Standardtypen› herausgearbeitet, die heute immer noch und immer wieder anzutreffen sind (vgl. dazu das 3. Kapitel des Arbeitspapiers Nr. 11). Und mittlerweile gibt es im Skepsis-Reservat den Online-Test «Sind Sie ein Männerversteher?», einen dreiteiligen Essay über die «Die Wahrheit über Männer und Frauen», eine mythographische Skizze zum ‹männlichen› und ‹weiblichen› Kaufen und gar eine Studie zum «Teflon-Mann», nebst einer Fallstudie zu dieser besonderen Spezies.

Und was soll nun dieses Traktätchen noch zusätzlich zum Verständnis des ohnehin einfach zu verstehenden Lebewesens ‹Mann› beitragen? Um welchen Erkenntnisgewinn soll es denn jetzt noch gehen? Berechtigte Fragen. Hier die Antwort.

Angeregt durch das mediale Gebaren von ‹wichtigen› Männern haben wir uns vor einigen Wochen bei einer Redaktionskonferenz gefragt, ob wir nicht noch einmal abschließend diesen Prototyp des genuin ‹modernen› Mannes in Alltag und Wissenschaft – und insbesondere in Politik und Ökonomie – besichtigen, beschreiben und im Rahmen eines Traktätchens anmutig verpacken sollten: Wie tickt dieser ‹moderne› Mann (die wenigen Frauen, die ihm nacheifern, sind nicht der Rede wert), der so nachhaltig unsere Welt verändert, ihren Gang beeinflußt und in ihr Spuren hinterläßt? Welcher Psycho-Logik folgt eben dieser ‹moderne› Mann, der all' das anrichtet, was nicht nur Michel Chossudovsky in «Global Brutal» [1] Michel Chossudovsky (2002): Global Brutal. Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg. Frankfurt am Main: Zweitausendeins. und Viviane Forrester in «Der Terror der Ökonomie» [2] Viviane Forrester (1998): Der Terror der Ökonomie. Frankfurt am Main und Wien: Büchergilde Gutenberg. beschreiben?

Gerade weil dieser ‹moderne› Mann in der Gegenwart ganz unvorstellbare Probleme produziert, die – was die ökologischen Schäden angeht – vermutlich nie wieder gut zu machen sein werden, haben wir uns vorgenommen, seine Leitlinien und Grundsätze säuberlichst zu sezieren und dabei zu zeigen, was zum einen an ihnen so ‹modern› ist, und zum anderen, wie schlicht sie eigentlich sind.

Und so sind wir ausgeschwärmt und haben uns den Medien, trennscharfen sozialen Kontexten und kritischen familialen Situationen zugewandt und reichlich Material zusammengetragen. Und unsere Bemühungen ergaben einen überraschenden und klaren Befund: Auch in einem neuen Jahrtausend, auch in einer zugespitzten Post- oder Spätmoderne, auch in einer ‹Gesellschaft des Spektakels›, auch in einer finalen Tralala-Kultur, auch in einer großen Zeit, in der die vielen, vielen ‹Ichs› ganz überwiegend damit beschäftigt sind, ihre eigene, ganz persönliche Lebensart zu zeigen, scheint der Prototyp des ‹modernen› Mannes ganz unangekränkelt nicht nur ökologische Alltags-Nischen zu besiedeln, in denen er überleben kann, sondern auch den Gang der Dinge, der Dinge also, die uns alle betreffen, entscheidend zu beeinflussen. Das schauen wir uns an. Und wir nennen diesen ‹modernen› Mann von nun an den «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann».


2. ‹Ich› weiß es!

Postmoderne Medien – und insbesondere «Die schlimmste Lichtquelle der Welt» – sind ohne tägliche Auftritte des «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mannes» nicht vorstellbar. Es gibt keine ‹Nachrichtenshow›, kein ‹Infotainment-Format›, welches nicht von irgendeinem wichtigen ‹modernen› Mann als Bühne genutzt würde, um einer breiten Öffentlichkeit mitzuteilen, daß er persönlich etwas weiß. Und – um das «jetzt einmal ganz deutlich zu machen» – daß ein anderer ‹moderner› Mann – meist ein politischer Gegner, der gerade ‹gejagt› wird – nicht nur nichts weiß, sondern mit eben diesem Nicht-Wissen auch die ‹Pólis› zugrunde richtet. Schon des Morgens zwischen sieben und acht Uhr sind diese ‹modernen› Männer auf der Jagd: Da geben sie den verschiedenen willigen Rundfunkstationen Interviews, in denen sie zeigen, daß sie ‹alles› über ‹nichts› wissen. Und sie erschrecken mit ihrem selbst- und weltgewissen Tonfall alle sensitiven Frühaufsteher.

Nun, diese täglich in den Medien vorgeführten öffentlichen Männer, diese ‹Allesbesserwisser› interessieren uns nicht. Diesen Masken-Menschen zuhören zu müssen, ist äußerst langweilig. Denn was sie sagen werden, wissen wir bereits im voraus:
«Was ihr hört, sind immer dieselben Worte. Sie haben fünf- bis sechshundert Vokabeln, mit denen bestreiten sie Forderung und Übergriff, Rechtfertigung und Abwehr, Reue und Bekenntnis, Vorwurf und Verdächtigung, Wahrheit und Lüge und den gesamten täglichen Umgang. Es ist unbeschreiblich lächerlich; ein Stammeln von ewig wiederkehrenden Floskeln, als ob ihre Hirnrinde aus Zeitungspapier bestünde. […] Strafe, Sühne, Ausgleich, Gerechtigkeit: alles nur Mühle, die nicht mahlt, Feuer aus farbigem Papier, mit Redensarten ausgestopfter Popanz.» [3] Jakob Wassermann (1925): Laudin und die Seinen. Berlin: S. Fischer Verlag. Seite 101.
Was uns in diesem Traktätchen statt dessen interessiert, ist die Frage, ob es diese ‹modernen› Männer auch in unserem Alltag, in unseren sozialen Räumen gibt und, wenn ja, wie sie sich dort zieren und spreizen. Wir haben in einer Feldstudie eine Fülle von Beispielen in verschiedenen sozialen Kontexten gesammelt. Wir werden im folgenden aber nur drei Kontexte prototypisch vorstellen, denn diese – und das darin Gesagte – wiederholen sich doch arg. Soviel zur sozialen Konstruktion unserer Lebensäußerungen.

Der erste Kontext: Wir waren in der glücklichen Lage, als teilnehmende Beobachterinnen ein Familientreffen im wirklichen Leben miterleben zu dürfen. Diese congregatio familialis hatte einen ganz natürlichen informationellen Mittelpunkt, der von einem etwa 50-jährigen Mann gebildet wurde, Arzt von Beruf. Während des gesamten Beisammenseins war dieser ‹moderne› Mann die Zentralstelle, das Info-Büro, das wandelnde Lexikon für Wissen aller Art. Ja, seine Lebensäußerungen bestanden nahezu ausschließlich aus erbetenen oder ungebetenen Auskünften über die Wirklichkeit, die dann mit eben seiner Erklärung sozusagen festgestellt und festgeklopft war. Überaus erstaunlich war die Breite der Themen, zu denen dieser ‹moderne› Mann abschließend Stellung nehmen konnte: Fragen von Schuld und Unschuld; Maßnahmen, was mit Straffälligen zu geschehen habe; ob es besser sei, ‹sein Geld› in Aktien oder Rentenpapieren anzulegen; wie heute Immobilien zu kaufen oder zu verkaufen seien; wie sich guter Wein (aber auch Champagner, Cognac etc.) von schlechtem unterscheiden lasse; warum Beamte letztlich mehr verdienten als Angestellte; welches Computersystem als einziges ‹kompatibel› sei; und so weiter. Dazu kam eine Fülle von Angelegenheiten der Definition: «Das ist auf keinen Fall so oder so, sondern so und so!» Genau. Deswegen kamen wir ja auch die Idee, ihn den «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann» zu nennen.

Der zweite Kontext: Wir haben ein wenig herumgehört unter unseren Bekannten aus dem Gesundheitsbereich. Natürlich ist es schwer vorstellbar, daß ein moderner Mann freiwillig zu einem Psychologen oder Psychotherapeuten geht. Er wird eher Fachärzte aufsuchen, die nicht ‹im Vagen› herumfischen, wie die ‹Psychos›, sondern die mit aufwendigen, klaren, präzisen diagnostischen Instrumenten feststellen, was denn nun ‹körperlich› so los ist. Nur nebenbei: Besonders beliebt bei ‹modernen› Männern ist es, sich Röntgenstrahlen (Computertomographie) oder starken Magnetfeldern (Kernspintomographie) auszusetzen und sich mit Sonden in den Arterien herumpulen zu lassen. Und wenn dann nichts gefunden wird? Tja, was dann? In diesem Kontext sagte ein «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann» in der ersten Stunde zu einer Psychotherapeutin:
«Mein Rheumatologe hat mich hierher geschickt, damit ich abklären lasse, ob meine Beschwerden psychosomatisch bedingt sind. […] Und wenn ich das hier durchgezogen habe und sich nichts Psychosomatisches herausstellt, gehe ich wieder zu meinem Hausarzt, um der wirklichen Ursache meiner Beschwerden auf den Grund zu gehen.»
So ist das.

Der dritte Kontext: In einer kleineren Runde von Alltagspsychologen ging es allgemein um die Macht der Gefühle, also um das angebliche Schisma «Kopf versus Bauch». Man sprach speziell über eine Person, die ihre Bauchschmerzen schon seit längerer Zeit mit Antacida ‹behandelte›. Die Psycho-Logik dieser kleinen küchenpsychologischen Runde war ziemlich klar: Man sollte mehr auf seine Gefühle achten und insbesondere diese auch häufiger ‹rauslassen›. Klar, ein moderner Mann kann über ein derartiges Gespräch über Gefühle nur lächeln. Aber wenn er nun schon einmal aus unerfindlichen Gründen dabei sitzt, kann er auch was sagen. Und das tut er dann auch:
«Ich habe mal versucht, mehr auf meine Gefühle zu achten. Aber es ist doch klar, daß ich mich z.B. auf meinen Urlaub freue und über was Ärgerliches ärgere. Herauszufinden, was ein Gefühl oder was Bauchschmerzen mir sagen wollen, das macht doch kein Mensch.»
So ist das.

Im folgenden Abschnitt fassen wir unsere Beobachtungen zusammen und abstrahieren sie.


3. Zur Psychologie des «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mannes»

Mittlerweile ist uns klar, daß der «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann» meint, sehr viel zu wissen. Dabei sind die beherrschten und gewußten Themen – je nach sozialem Raum – zwar nicht allumfassend, aber doch immer äußerst weitläufig. Ja, jeder Mann weiß eigentlich mehr, als er wissen kann. Und wenn er etwas weiß, dann zweifelt er nicht. Das heißt, daß die Geste des Wissens immer mit einer selbstwertbezogenen Deutlichkeit transportiert wird: Die eigene Weltsicht ist die normale und richtige und überlegene, andere Menschen haben leider keine Ahnung. Denn der «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann» kennt halt die ‹Tatsachen› und ‹Fakten›, er ist informiert, er verläßt sich auf sein sicheres ‹Urteil›. Interessant und bezeichnend sind nun nicht die vielen kleinen unbeirrbaren Rechthabereien, sondern das dahinter stehende geschlossene Weltbild. Wir werden dies im folgenden angemessen dekonstruieren und zunächst einmal mit seinem Verständnis von Wirklichkeit beginnen.

  • Jedes ‹Ding›, jeder ‹Sachverhalt›, jede ‹Tatsache› hat einen richtigen Namen, und nur den. Alle anderen Namen dafür sind falsch, oder ungenau. Würde er sich für Philosophie interessieren, käme er zu dem Satz: «Was sich sagen läßt, läßt sich genau sagen!»
  • ‹Ideen›, insbesondere ‹Geschäftsideen›, sind zwar auch ganz nett, es ist aber immer vernünftiger, sich an Tatsachen zu halten. Und wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!
  • Jedes Ereignis, also alles, was der Fall ist, hat eine Ursache. Ein Ereignis ist die ‹Wirkung› einer Ursache.
  • Ursachen für Ereignisse lassen sich finden, klar feststellen oder ‹abklären›.
  • Alles ist entweder so oder so, wahr oder falsch, schwarz oder weiß: Der ‹moderne› Mann vertraut der ‹Zweiwertigen Logik›.
  • ‹Einzuleitende Maßnahmen› und Therapien aller Art bestehen vom Anspruch her allein darin, die Ursachen für Ereignisse zu beseitigen. Und wenn man die Ursachen nicht kennt, werden halt die Symptome behandelt. Ist der «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann» etwa einmal krank, dann erwartet er ein hochwirksames Medikament, das gezielt genau gegen dieses eine Symptom, diese eine unerfreuliche ‹Störung› in seinem Leib angeht. Und fertig.
  • Obwohl der ‹moderne› Mann gerne spricht, zweifelt er doch an dem, was sich alles so sagen läßt. Narrationen sind für ihn ‹weiche Daten›. Und ihm sind halt ‹harte Daten›, also Tatsachen und Befunde, lieber. Er kümmert sich so bevorzugt um den Inhaltsaspekt sprachlicher Botschaften, nicht um deren Beziehungsaspekt. Der ‹moderne› Mann weiß aber auch: Sprechen ist was fürs ‹Soziale›. Deswegen sprechen ja Frauen auch soviel. Was den «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann» bestenfalls amüsiert. Und ihn in unserem Frauenverstehertest immer wieder scheitern läßt.
  • Mit ‹Gefühlen› tut sich der ‹moderne› Mann schwer. Er kann, als jemand, dessen Kernkompetenz darin besteht, der ‹Vernunft› zu vertrauen, auch nicht verstehen, was für ein Gewese um Gefühle gemacht wird. Wenn er ganz ehrlich ist, würde er sagen, Gefühle seien etwas für Nicht-Männer, also Frauen, oder Schwule.
  • Soziale, theoretische, kulturelle, ethnische und sexuelle Vielfalt werden vom ‹modernen› Mann verabscheut. Wenn alles entweder so oder so ist, richtig oder falsch, dann kann es keine Vielfalt geben. Das wäre eine nicht auszuhaltende Beliebigkeit. Also bevorzugt er Einfalt. Bücher über diese Einfalt werden von Einfältigen besonders gerne gelesen.
  • Die größte Einfalt, zu der der ‹moderne› Mann fähig ist, ist der unerbittliche Reduktionismus auf allen Ebenen: Die Zurückführung und ursächliche Verortung komplexer Emergenzniveaus lebender Systeme auf möglichst eine Ursache, wie etwa ein Gen. Oh je. Das wird die ‹Pólis› noch sehr viel Geld kosten.

  • Diese kleine Aufstellung soll uns in diesem Rahmen genügen. Schon auf den ersten Blick wird überaus deutlich, daß der ‹moderne› Mann fest in einer ‹naiv-realistischen Epistemologie› verhaftet ist. Da wir in der Abteilung «Wahrheiten und Wirklichkeiten» unseres Skepsis-Reservates die derzeitig gängigen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Abgründe der Moderne nachhaltig diskurriert haben, wollen wir hier nun nicht wiederholen, was es im einzelnen damit so auf sich hat und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.

    Statt dessen zitieren wir Richard Weiner:
    «Unser Stolz, unser Gefühl der intellektuellen Weltherrschaft, unsere unsinnige Hoffnung, daß ‹es sich einmal zeigen› werde, beruhen auf drei Säulen: dem Gesetz von Ursache und Wirkung, dem Dreisatz und der eitlen Regel von den großen Zahlen. Auf diesen drei Säulen ruht eine Liegestatt, und auf dieser Liegestatt liegt unsere Beschränktheit so bequem, daß sie nicht einmal bemerkt, daß sie mit diesen Säulen identisch ist.» [4] Richard Weiner (1991): Der Bader. Berlin: Friedenauer Presse. S. 72.
    Da die Füße des «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mannes» fest in einer naiv-realistischen Epistemologie einbetoniert sind, ist er auch der festen Meinung und Überzeugung, daß alle Probleme, insbesondere auch ‹soziale›, ‹kommunikative›, ja selbst ‹psychische›, sachlich und rational zu lösen seien. Deswegen liebt er auch klare Entscheidungen nach Faktenlage, überhaupt ist für den ‹modernen› Mann alles klar, wenn es erst einmal klar ist. Walter Lippmann sagt dazu:
    «Zu jedem menschlichen Problem gibt es eine Lösung, die einfach, sauber und falsch ist.» [5] Stephen Toulmin (1991): Kosmopolis: Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Seite 321.
    Letztlich vertritt der «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann» einen absoluten Rationalismus, also Ideale der Vernunft, die formal, kalkülmäßig, «theoretisch perfektionistisch, moralisch rigoros und menschlich unerbittlich» sind. [6] Stephen Toulmin (1991), s.o., Seite 318.

    Schließen möchten wir diesen Abschnitt mit einigen Gedanken zur Unterscheidung von Moderne und Postmoderne. Denn das, was den «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann» der Moderne ausmacht, läßt sich noch einmal zusammenfassend sehr schön über vier von Toulmin herausgearbeitete Dimensionen deklinieren. [7] Stephen Toulmin (1991), s.o., Kapitel 1 und Kapitel 5. Und diese vier mit erheblichen Konsequenzen verbundenen Dimensionen haben den «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann» in eine tiefe Krise geführt, ja, in eine Sackgasse, aus der er wohl schwerlich wieder herausfinden wird. Er weiß es nur nicht.

  • Schriftlich statt Mündlich: Der ‹moderne› Mann hält nichts von mündlichem Gerede. Er verläßt sich lieber auf schriftliche Unterlagen. Und statt rhetorischer Argumente bevorzugt er Fakten und logische Beweise. Ist er einmal unterwegs, verläßt er sich auf Navis und Reiseführer und arbeitet ein bestimmtes zu erfüllendes Besuchsprogramm ab, dessen, was man gesehen haben muß. Er flaniert nicht, oder nur sehr ungern. Das ist für ihn Zeitvergeudung.
  • Global statt Lokal: Über den Einzelfall, das Einzelschicksal muß der ‹moderne› Mann in seinen andauernden Rationalisierungsanstrengungen hinweggehen, da er das Große und Ganze im Auge hat. Da er sich um das ‹Globale› und um die ‹Nutzung von Synergieeffekten› zu kümmern hat, kommt es dann lokal im Einzelfall schon mal zu Härten und zu unpopulären Maßnahmen. Der ‹moderne› Mann darf aber bei lokalen Problemen nicht das globale Ziel aus den Augen verlieren.
  • Allgemein statt Besonders: Die konkrete Vielfalt im Lokalen verwirrt den ‹modernen› Mann nur. Deswegen strebt er nach einer abstrakten Axiomatik in seinen Leitlinien. Was ‹man› halt so tut, als Mann.
  • Zeitlos statt Zeitgebunden: Das Momentane, das lokal Aktuelle, das Zeitgebundene, das hier und jetzt, das aufsteigend Gefühlshafte, das Vorübergehende also, das interessiert den ‹modernen› Mann nicht, und dem vertraut er auch nicht. Er braucht für sein Wirken in dieser Welt dauerhafte und zeitlose Theorien: «Wenn jemand eine Theorie hat, bringen ihn keine zehn Gäule mehr davon ab. Was schert ihn da die Wirklichkeit?» [8] Jakob Wassermann (1931): Der Fall Maurizius. Berlin: S. Fischer Verlag. Seite 90.

  • (Kleiner Exkurs: Eine der wichtigsten und dauerhaftesten Theorien, auf die sich der ‹moderne› Mann gerne beruft, ist der finale Kapitalismus. – Wir könnten auch sagen, die Entwicklung des Kapitalismus hat die soziale Produktion des ‹modernen› Mannes erst ermöglicht. – Die Theorie des finalen Kapitalismus ist und bleibt für den ‹modernen› Mann richtig, weil diese einem Prinzip folgt, und er sich nicht die Gesichter der Menschen anschaut. Ja, selbst wenn Millionen und Abermillionen von Menschen ohne Arbeit wären, zeigte das doch nur, die Richtigkeit dieser fundamentalistischen Theorie. Menschen sind dann ohne Arbeit, wenn die Löhne zu hoch sind, das ist innerhalb der Theorie klar. Die Lösung wäre hier also, und da sind sich alle ‹modernen› Männer einig, die Löhne so zu senken, daß die Menschen ohne Arbeit für ganz wenig Lohn wieder eine Arbeit annehmen. Wie ein Mensch im Einzelfall von dem wenigen dann leben soll, das ist eine Frage, die sich im kapitalistischen Fundamentalismus gar nicht erst stellt. Denn da muß dann die ‹Pólis› helfen und einspringen, der Staat. So gibt es tatsächlich schon seit längerer Zeit den Brauch, daß der Staat die äußerst geringfügigen Löhne, die ein Unternehmer soeben noch zu zahlen bereit ist, aufzustocken hat, damit es für die Beschäftigten zum Leben reicht. Das wird das Modell der Zukunft sein. Exkurs Ende.)


    4. Ausblick

    Die Zeit ist über ihn hinweggegangen, und dennoch sitzt er in allen entscheidenden Positionen des politischen und ökonomischen Alltags und beeinflußt so unser Leben: Der «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann».

    Ist die Lage aussichtslos? Sollen wir verzweifeln? Gibt es keine guten Nachrichten? Müssen wir damit rechnen, daß eines Tages bei uns zu Hause im Salon auf dem roten Sofa auch ein ‹moderner› Mann sitzt, weil wir keinen anderen ‹abgekriegt› haben? Der uns dann immer wieder seine Sicht der Tatsachen erläutert? Ach nein! Es gibt so nette Männer, die weder modern noch postmodern sind. Das sind die – trotz unserer Liebe – immer gelinde und anmutig depressiven Ästhetiker, Peripatetiker, Künstler, Schöngeister, Romantiker, Philosophen, Dichter und Skeptiker. Leider beeinflussen sie nicht den Lauf der Dinge, sonst sähe unsere Welt anders aus.

    Und welche Wohltat ist es, etwa ein Interview mit einem dieser ‹unmodernen› Männer zu lesen, wie Sven Nordqvist. [9] Sven Nordqvist über Einsamkeit. Ein Interview. Süddeutsche Zeitung vom 02.11.2002. Wie, Sie kennen Sven Nordqvist nicht? Dann fragen Sie mal Ihre Kinder. Ach, Sie haben keine Kinder? Dann sollten Sie sich den Namen Sven Nordqvist merken, falls Sie Kindern mal was schenken wollen oder sollen. Alles klar?

    Unabhängig von ‹modernen› oder ‹unmodernen› Männern: Ist in diesen geistesfernen Zeiten eine Rückkehr zum skeptizistischen Denken und zum geistigen Flanieren denkbar? Ist es möglich, daß wir wieder lernen, statt über unser Wissen über unser Unwissen Auskunft zu geben? Ist eine Rückkehr zur so überaus sympathischen und klugen skeptischen Lebenshaltung eines Michel de Montaigne denkbar? Oh ja, und einige sind bereits auf dem Weg. Sie sind «Unterwegs um unterwegs zu sein.» [10] Michel de Montaigne (1580/1998): Essais. Erste Moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag. Seite 491. Sie mißtrauen den Wörtern, die der «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann» so gerne benutzt. Und sie mißtrauen den vielen glatten und rationalen Lösungen und Rezepten, die uns von den «Dies-und-das-ist-so-und-so-Männern» präsentiert werden.

    In der kleinen Ortschaft Saint-Michel-de-Montaigne in der Dordogne steht immer noch der alte Turm, in dem Michel de Montaigne im 16. Jahrhundert seine Essais schrieb:
    «Das Erdgeschoß wird von meiner Kapelle eingenommen, das erste Stockwerk besteht aus einem Schlafgemach, mit Nebenraum, wo ich mich oft hinlege, um allein zu sein.» [11] Michel de Montaigne (1580/1998), s.o., Seite 412.
    Die Bibliothek liegt im zweiten Stock dieses Turms:
    «Hier also bin ich ganz zu Hause, hier suche ich ganz mein eigener Herr zu sein und diesen einzigen Winkel sowohl der ehelichen und töchterlichen als auch der gesellschaftlichen Gemeinschaft zu entziehn.» [12] Michel de Montaigne (1580/1998), s.o., Seite 413.
    Und auf einem Deckenbalken dieser Bibliothek steht: «QUE SCAY-IE». Diese Frage hat Michel de Montaigne zu seinem Wahlspruch gemacht und – über dem Bild einer Waage – auf eine Medaille prägen lassen. [13] Michel de Montaigne (1580/1998), s.o., Seite 263.

    In heutigem Französisch würde diese Frage aller Fragen heißen: «Que sais-je?» Und auf Deutsch: «Was weiß ich?»

    Was würde der «Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann» auf diese Frage antworten? Wir wollen es nicht hören.



    Kommentar:

    Liebe Albertine, liebe Henriette,
    eure Zusammenstellung der besonderen Fähigkeiten und Merkmale, über die ein ‹moderner› Mann so verfügt, ist zwar nicht ganz vollständig, aber ihr habt es dennoch wirklich getroffen. Am besten gefallen hat mir das eher in einem Nebensatz versteckte zusammengesetzte Wort «Kernkompetenz». Hach, welch' ein Wort! Dabei hat es das etwas schlichtere Wort «Kompetenz» für sich genommen schon in sich: Ziehen wir Wörterbücher zu Rate, dann bedeutet das aus der Juristensprache kommende Wort «Kompetenz» so etwas wie ‹Zuständigkeit›, ‹Autorität›, ‹Verantwortlichkeit›, aber auch ‹Maßgeblichkeit›. Ein ‹moderner› Mann, ausgestattet mit natürlicher ‹Kompetenz›, gibt uns also ein Maß, ja, ist uns ein Maß. Für was? Nun, für das, was ist, was also wirklich ist.
    Und jetzt noch der erste Teil des Doppelwortes: «Kern»! Wieder müssen wir in einen Thesaurus deutscher Worte hineinschauen, um zu verstehen, was es mit einem Kern auf sich hat: Kern bedeutet hier so etwas wie Hauptsache, Schwergewicht, Inhalt, Inbegriff. Ein Kern ist das Entscheidende, das Wichtige, das Wesentliche, der springende Punkt, das A und O, die Quintessenz. Ein Kern ist schlicht das, worauf es ankommt.
    Und jetzt endlich verstehen wir, was uns das Wort «Kernkompetenz» sagen will: Kurz und deutlich ausgedrückt, sind ‹moderne› Männer aufgrund ihrer natürlichen ‹Autorität› ‹zuständig› für das ‹Wesentliche›, für das, worauf es ankommt. Ist das nicht allerliebst?
    Aber ich bin noch nicht fertig. Wer die positivistische Wucht des Wortes «Kernkompetenz» übertreffen will, muß sich im öffentlichen Diskurs schon ganz schön anstrengen. Aber einer hat es geschafft: Der Kanzlerkandidat. Natürlich, wer sonst? Der Kandidat also hat als Inbegriff, als Prototyp des ‹modernen› Mannes kurz vor einer Wahl gesagt, er habe die ‹Kompetenzkompetenz›. Gut, wer sich ein wenig in der Juristerei auskennt, weiß daß die ‹Kompetenzkompetenz› die aufgrund eines Gesetzes für einen Verwaltungsträger geschaffene Möglichkeit ist, seine Zuständigkeit zu Lasten eines anderen Verwaltungsträgers auszuweiten. Nur, darum geht es jetzt nicht.
    Sondern um den ‹modernen› Mann, und darum, daß er, gerade er sich anmaßt, über eine ‹Kompetenzkompetenz› zu verfügen. ‹Kompetenzkompetenz!› Diesem Wort müssen wir erst einmal hinterherschmecken. Schauen wir auf die o.g. Synonyme: Da ist also jemand zuständig für die Zuständigkeit, oder verantwortlich für die Verantwortlichkeit, oder maßgeblich für die Maßgeblichkeit. Oder verantwortlich für die Autorität, oder maßgeblich für die Zuständigkeit, und so weiter ad libitum. Herrlich!
    Aber ich bin immer noch nicht fertig. Denn übertroffen werden kann das Wort «Kompetenzkompetenz» eigentlich nur noch von folgender Lebensäußerung: «Meine Kernkompetenz ist die Kompetenzkompetenz!». Wetten, daß wir das noch zu hören kriegen? Ach, Männer!
    Liebe Grüße
    Bettina



    Ins Netz gestellt am 23. Mai 2014
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