BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Herr Klinsmann ist Frau Ypsilanti!»
von Helmut Hansen & Henriette Orheim
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«Die Presse kann ihre Macht nur erhalten,
wenn sie den geistigen Tiefstand der Masse faktisch verkörpert. [...]
Die Popularität der Presse ist wirkliche Gemeinheit,
die Presse ist des Pöbels.
Was der Zeitungsleser in den Blättern sucht und findet,
ist der Abklatsch seiner eigenen Niedrigkeit.»
(Karl Hauer)

Lieber Leser, liebe Leserin, stellen Sie sich vor, sie wären eine Ethnographin, eine Mythographin, eine Kulturphysiognomin, ja, gar eine Wirklichkeitsprüferin, und Sie würden mit einem Mal befragt, was denn der Herr Klinsmann mit der Frau Ypsilanti zu tun habe, und Sie würden daraufhin sofort interessiert aufmerken, einen Augenblick nachdenken, und dann voller Pathos rufen, die beiden hätten nicht nur etwas miteinander zu tun, sondern Herr Klinsmann sei Frau Ypsilanti; und dann würden sie – von den merkwürdigen Blicken ihrer Diskurspartnerinnen in keinster Weise beeindruckt – weit ausholen und in einer wunderbaren Suada endgültige Wahrheiten über die Rolle von Zeitungen im Allgemeinen und die Schändlichkeit eines ganz bestimmten Schmutz- und Schmierlappenblattes ausbreiten! Eine schöne Vorstellung? Ja, das finden wir auch. Was uns nun interessiert, ist, was Sie, liebe Leserin, lieber Leser, im einzelnen denn in Ihrer Wutrede erwähnen würden?

Klar, Sie müßten schon ein wenig ausholen und zunächst etwas über ‹Logik, Wirkung und Nutzen einer ‹Schmierlappenzeitung›› im Allgemeinen sagen, dabei die ewig gleichen und schlichten Bestandteile dieses ‹journalistischen› Wirkens mit den Begriffen Personalisierung, Emotionalisierung und Erregungsproduktion durch Skandalisierung umreißen, und dürften auch nicht vergessen, die Reduktion – insbesondere von Frauen – auf Körperlichkeit, auf Aussehen und Nacktheit als besondere Variante der Personalisierung zu schmähen, um mit der schändlichen Wirkung dieser ‹journalistisch› so ‹üblen Sexualkloake›, wie Gerhard Henschel sie nennt, fortzufahren, einer Kloake, die vorgebe, die Menschen dort abzuholen, wo sie seien, und ihnen dabei zu helfen, sich eine Meinung bilden zu können, um sie dann doch täglich und unerbittlich immer weiter in eine sekundäre Analphabetisierung hinein zu stoßen und sie dümmer, böser, schlechter und gemeiner zu machen. Eine Schmierlappenzeitung – so echauffieren Sie sich –präsentiere täglich das, was wir unter einer Bildungskatastrophe verstehen.

Denn einer Schmierlappenzeitung, so fahren Sie gleich fort, gehe es in einer spektaklistischen Gesellschaft um nichts Höheres, sie möchte die Menschen – Arm in Arm mit dem Unterschichtenfernsehen – eben nicht ‹besser› machen oder ihnen gar dabei helfen, sich aus ihrer ‹Unmündigkeit› zu befreien, oh nein, es gehe hier nur vordergründig und verlogen um Werte und ein Herz für Kinder, der eigentliche Sinn aber sei – eben mit der Verbreitung von Schmutz – die Aufrechterhaltung aller ungerechten und schändlichen gesellschaftlichen Verhältnisse. Eine Schmierlappenzeitung habe ihre Endverbraucher aus dem Prekariat genau da, wo sie sie haben wolle. Und dann fügen Sie noch einen Gedanken von August Strindberg hinzu:
«Wenn die Unterklasse [...] wüßte, was die Gesellschaft ist und was die Oberklasse ist. Die Unteren ahnen es manchmal, wenn sie aus ihrem Schlummer geweckt werden, doch dann starren sie sich wieder blind am wirtschaftlichen Vorteil und vergessen, daß es anderen Druck von oben gibt, der die Unteren in unsichtbaren Ketten hält.»
Und dann verneigen Sie sich vor dieser endgültigen und so seherischen Formulierung und betonen noch einmal den Nutzen einer Schmierlappenzeitung für diejenigen, denen die Bundesrepublik gehört. Eine Schmierlappenzeitung stelle, so sagen Sie, neben der üblichen allgemeinen Propaganda für Kapitalismus und Globalisierung, für die schmierlappenaffine soziale Schicht Meinungen und ‹Denkgesetze› zur Verfügung, die vom eigenen Meinen, Urteilen und Denken abhielten. Gleichzeitig implementiere die größte Schmierlappenzeitung dieses Landes mit ihren wackeren Verbündeten täglich eine rücksichtslose Bildungsverachtung und eine Abscheu vor gesellschaftlichen Neuerungen und Änderungen aller Art. Traditionell am meisten verspottet würden Weltverbesserer! Und schon werde der politische und gesellschaftliche Nutzen einer ‹Schmierlappenzeitung› so klar und überdeutlich, denn, so rufen Sie, stellten wir uns nur mal kurz vor, die etwa zwölf Millionen Ausgegrenzten und Überflüssigen in unserer Gesellschaft würden sich vereint mit der abstürzenden Mittelschicht geistig und kulturell bilden, würden sich von schmutzigen Schmierlappen emanzipieren, würden ihre ‹Person› vervollkommnen, würden etwa lesen, sprechen und denken lernen und daraufhin Ansprüche anmelden, Gerechtigkeit verlangen und Forderungen nach einer Teilhabe stellen! Um Himmels Willen! Das wäre eine Katastrophe für die ‹Herren des Wörterbuchs›!

Der Nutzen einer Schmierlappenzeitung für die ‹Herren des Wörterbuchs› und diejenigen, denen die Bundesrepublik gehört, sei, so fahren Sie immer noch erregt fort, immens: Die Unterschicht und weite Teile der Mittelschicht würden mit Hilfe von Schmutz- oder Tralalamedien permanent vom Zustand der Selbstreferenz abgehalten, ihre Chancen in Richtung irgendeiner politisch unerwünschten Eigenbewegung täglich verringert und das Resultat sei genau die erwünschte geistige und moralische Haltlosigkeit, die überall zu beobachten sei. Keine Haltung mehr zu haben, so fahren Sie fort, bedeute aber, ohne inneren, seelischen, geistigen, spirituellen Halt zu sein und alles, woran man sich festhalten könne, gegen flüchtige Erregungen bei der Auswahl von Billigwaren einzutauschen. Haltlose, bildungsferne Schichten blieben also da, wo sie schon immer waren, nämlich unten, während die Oberschicht sich über die ausbleibende und fort gefallene Konkurrenz freuen könne. Bürgerkinder machten ihren ‹Master of Business Administration› und blieben unter sich, die ‹bildungsfernen› Schichten versackten in der ‹üblen Sexualkloake›.

Ja, und da werden Sie mit einem Mal von einem vorwitzigem Mann unterbrochen, der Sie an die Frage erinnert, was denn Herr Klinsmann nun mit Frau Ypsilanti zu tun habe. Sie seufzen, Sie meinen, genau das hätten Sie doch gerade ausgeführt. Aber gut, Sie zetern nicht, Sie sagen es klar und deutlich: Bei der Betrachtung der beispielhaften und andauernden Hetzkampagnen der größten Schmierlappenzeitung dieses unseres Landes gegen Herrn Klinsmann und Frau Ypsilanti sollten wir uns nicht von angeblichen Fakten irre machen lassen und Unterschiede in den beiden Kampagnen oder den beiden Personen strapazieren. Daß Herr Klinsmann (vulgo GrinsiKlinsi) mit Fußball zu tun hat und Frau Ypsilanti (vulgo Lügilanti) mit Politik, stehe als Faktum in der Zeitschrift FOCUS, sei also völlig uninteressant. Denn es gehe darum, daß der Diffamierungsimpetus identisch sei. Und das stehe selbstredend nicht in der Zeitschrift FOCUS.

August Strindberg habe genau gesehen, sagen Sie nun, daß eine der wichtigsten Aufgaben aller staatstragenden Kräfte, und eine Schmierlappenzeitung sei ein ganz wesentlicher Teil davon, darin bestehe, darauf zu achten, daß die Beherrschten, und hier insbesondere die Entrechteten, Zurückgestoßenen und Verarmten, nicht aus ihrem Schlummer erwachten, nicht gestört würden, damit sie im Wachzustand, also bei der nächsten Kaufentscheidung, soeben noch ein ‹Ich bin doch nicht blöd› oder ein ‹Unterm Strich zähl ich› aufsagen könnten.

Und dann kommen Sie zum Finale: In den beiden nun abgeschlossenen schändlichen Kampagnen gegen Herrn Klinsmann und Frau Ypsilanti ging es einzig und allein darum, zwei Menschen, die etwas Neues planten, die etwas ‹verbessern› und dabei neue Ideen umsetzen wollten, mit allen Mitteln der Hetze zu stoppen und zu liquidieren. Denn die ‹Herren des Wörterbuchs› und ihre eingebetteten ‹Journalisten› sagten dies: Änderungen, die bei den Mächtigen immer ‹Reformen› hießen – aber, so sagen Sie, niemals Reformen seien – sollten wir alle doch – bitte schön – den bewährten Institutionen der Obrigkeit überlassen. Oder wie es ein alter Fußballspieler sagte, der in seinem Leben zu viele Kopfbälle machte und ansonsten einmal dadurch auffiel, daß er sich in einer Fernsehsendung ausgiebig am Sack kratzte:
«Ich halte nicht viel davon, wenn man zu viele Sachen auf einmal will. Ich glaube auch nicht, dass die Amerikaner uns das Fußballspielen oder die Fitness beibringen können.»
Das ist es, da schwingt zur Freude aller Zurückgebliebenen und Analphabetisierten sogar noch eine Portion Chauvinismus mit.

Und mit diesen Worten vom geistigen Ganz-Unten werde uns klar, so sagen Sie nun endlich zum Schluß kommend, wie sich die über so lange Zeiträume erstreckende Diffamierung und Verteufelung von Herrn Klinsmann und Frau Ypsilanti zu einem Nutzen für unser final-kapitalistisches Gemeinwesen und die ‹Herren des Wörterbuchs› wende. Beide Kampagnen wären nur die Variation ein und der selben Frage gewesen: Wo kämen wir denn dahin, wenn hier in diesem unseren Land plötzlich Leute aufträten und uns ungefragt erzählten, was wir anders machen könnten oder sollten? In diesem unseren Land müßten ‹wirkliche› Neuerungen, Erneuerungen, Änderungen, Umgestaltungen und Utopien geächtet und mit Dauer-Häme begleitet werden, sagen Sie. Und deswegen sei Herr Klinsmann Frau Ypsilanti!

Applaus!



Erstellt: 2. Mai 2009 – letzte Überarbeitung: 4. Mai 2009
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