BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Forschungsbefunde, Frames und der ‹Naive Realismus›»
von Albertine Devilder
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«Die Lektionen der Einfalt stehen in nichts denen der Wissenschaft nach.»
(Michel de Montaigne)

«Die Wissenschaft ist nur eine Episode der Religion.
Und nicht einmal eine wesentliche.»
(Christian Morgenstern)

«Sehen heißt: im entsprechenden Moment das Bild nachzubilden,
das die Denkgemeinschaft geschaffen hat, der man angehört.»
(Ludwik Fleck)

Forschungsbefunde

Helmut Hansen hat vor einigen Jahren hier im ‹Skepsis-Reservat› einen sehr schönen Essay zur Wissenssoziologie und zu einigen grundlegenden Fragen wissenschaftlicher Forschung geschrieben: ‹Worüber befinden eigentlich Forschungsbefunde?› Eine gute Frage, glaubt doch der ewige Kleinbürger, Wissenschaftler könnten mit ihren seltsamen und nur ihnen eigenen Methoden der Natur sämtliche Rätsel entreißen. Dieser Glaube ist so naiv, daß er in den meisten Medien immer wieder und immer weiter transportiert wird: ‹Forscher haben festgestellt, daß […]›. Nach der letzten großen Bildungsreform und dem ‹Abschied von der Universität› können wir sagen, daß den Studierenden heute bewußt jede Zeit genommen wird, über diese wichtige und genuin wunderbare Frage nachzudenken: ‹Worüber befinden eigentlich Forschungsbefunde?› Die Studierenden heute eilen, nein, hetzen durch ihr Studium und sollen dabei doch nur lernen, vermeintliche ‹Forschungsbefunde› im Auftrag von anderen anzuwenden. Von der ‹Universität› zur Fachschule. Das ist der Weg.


Frames

Artus P. Feldmann, unser guter Geist, hat in seiner Kolumne vom 5. April 2011 darüber berichtet, daß wir als ‹Soziale Konstruktivistinnen› an dem Wort ‹Frames› einen großen Gefallen haben:
«‹Frames› sind mentale Strukturen, Blickwinkel, Überzeugungen und Gewißheiten, die beeinflussen, wie wir die Welt sehen. Alle Wörter, die wir verwenden, hängen direkt mit ‹frames› zusammen. Oder anders: Wenn wir ein Wort hören, ist dies ohne ein ‹frame› nicht verstehbar. Oder noch anders: Fakten und Tatsachen spielen bei der Meinungsbildung keine Rolle, Meinungen rinnen aus ‹frames›!»
Henriette Orheim, Albertine Devilder und Helmut Hansen sagen in ihrem sehr schönen Traktat – «Probleme? Maßnahmen!» – über die unausweichlichen Katastrophen unserer kapitalistisch orientierten Lebensmittelproduktion:
«Kulturinsassen denken nicht, die haben Meinungen, die aus ‹frames› erwachsen. Und diese Meinungen lassen sich ganz wunderbar beeinflussen, indem man auf die ‹frames› zielt.»
Und Henriette Orheim & Albertine Devilder schreiben in ihrem Artikel «Zur Exkulpation eines rezenten Idols»:
«Die Strukturen sozialer Systeme schaffen also einen je spezifischen Habitus, in dem je spezifische ‹frames› als Wahrheitsbehauptungen, Argumentationsfiguren und Urteile gelten, und dies mit aller Macht, ohne sie auf einer Wirklichkeitsebene zweiter Ordnung begreifen oder hinterfragen zu können
Wie sagte es einst Heiner Geißler, als er noch nicht auf der Seite der vermeintlich Geläuterten war:
«Es geht nicht darum, was geschieht, sondern es geht darum, wie darüber gesprochen wird.»
So ist es. Politiker lernen das von Anfang an. Bis sich Sprache und Inszenierung von der ‹Wirklichkeit› lösen und zum Selbstzweck geworden sind. [1] Oliver Lepsius & Reinhart Meyer-Kalkus (2011): Inszenierung als Beruf. Der Fall Guttenberg. Berlin: Suhrkamp.

Frames also. Übersetzt ergibt das den Begriff ‹Rahmen›. Und der ist nicht schlecht gewählt. Er paßt. Denn unser kognitives System muß alles, was es erlebt und empfindet, deuten, also in verschiedene Rahmen setzen, die es versteht, in Kästchen einsortieren, die schon vorhanden sind. Unsere Frames sind unser Zugang zur Welt, zur Wirklichkeit, und zu uns selbst. So wird auch unsere Skepsis bezüglich der Möglichkeit einer Selbstreflexion verständlich. Wir stecken in unseren kognitiven Frames fest. Hier auf eine Wirklichkeitsebene 2. Ordnung, auf eine Beobachterebene zu kommen, bedarf schon einer fast übermenschlichen Anstrengung. Und Übermenschen gibt es nicht so viele.


Frames und der Naive Realismus

Jetzt wird es lustig. Das Konzept der Frames ist mittlerweile auch in der Mainstream-Wissenschaft angekommen und wird insbesondere diskurriert im Kontext politischer Wissenschaften. Das ist nicht verwunderlich, denn gerade im Bereich der Politik – also der von Interessen geleiteten Beeinflussung der ‹öffentlichen› Meinung – ist sehr leicht zu sehen, wie politische Meinungen mit Hilfe von Frames strukturiert werden und dadurch überhaupt einen Sinn ergeben. [2] Die derzeit beste Analyse liefert unser alter Freund George Lakoff (2004): Don't think of an elephant! Know your values and frame the debate. The essential guide for progressives. White River Junction: Chelsea Green Publishing. Es kann da schon einmal passieren, daß eine ‹gestandene› Wissenschaftlerin einen Satz, wie diesen, schreibt:
«Fakten haben nie einen Sinn an sich. Sie erhalten ihre Bedeutung durch Frames.» [3] Elisabeth Wehling (Juli 2011): Der gedankliche Abbau sozialdemokratischer Werte. Zur Sprache der Sozialpolitik in Großbritannien, Österreich und Deutschland. Friedrich-Ebert-Stiftung. Internationale Politikanalyse.
So weit, so gut. Wenn dem aber so ist, wie kann man dann in eben diesem Artikel völlig naiv auf vermeintliche ‹Forschungsbefunde› zurückgreifen? Wie paßt das? Gibt es in den Wissenschaften keine Frames? Wird hier selbstlos und objektiv die Welt entdeckt?

Karin Knorr-Cetina, eine Wissenssoziologin der Jetztzeit, die wir bereits in unserem Arbeitspapier Nr. 7 erfreut würdigten, hat in ihrem großartigen ‹Standardwerk› [4] Karin Knorr-Cetina (1984): Die Fabrikation von Erkenntnis : Zur Anthropologie der Naturwissenschaft. – Frankfurt am Main : Suhrkamp. und in vielen folgenden Untersuchungen immer wieder zu zeigen versucht, wie selbst in den ‹Naturwissenschaften› bestimmte gesellschaftliche Meinungen und Überzeugungen über begriffliche Vorfestlegungen die zu erwartenden ‹Forschungsbefunde› beeinflussen. Sie sagt:
«Warum sollen unsere interessenverankerten, instrumentell geschaffenen Wissenswelten irgendeine der Natur inhärente Struktur widerspiegeln? [...] Wissenschaftliches Wissen, sagt Feyerabend, ist nichts als eine Familie von Glaubenssätzen, gleich jeder anderen Familie von Glaubenssätzen. Systeme von Glaubensinhalten entwickeln sich in einem historischen und sozialen Kontext. Daher ist das Studium des ‹Faktischen› gleich dem Studium der Geschichte und der sozialen Welt.» [5] Karin Knorr-Cetina (1984) a.a.O., Seite 18.
Sagte ich nicht gerade, daß es lustig wird? Das überaus einleuchtende Konzept von den Frames leuchtet mittlerweile auch ‹Naiven Realisten› ein, nur, sie beziehen es weder auf sich selbst und ihre wissenschaftlichen Bemühungen, noch auf die wissenschaftlichen Bemühungen der Anderen. Sie lassen es gelten für den Alltag, für Nicht-Wissenschaftler, für Laien. Ach!


Fazit

Es hat sich nichts geändert im ‹naiv-realistisch› geprägten Wissenschaftsbetrieb. Es ist sogar schlimmer, dümmer geworden. Da gibt es ein vorzügliches und eigentlich eher unverdächtiges Konzept wie die Frames – verglichen mit der so verdächtigen und schrecklichen Ideologie des ‹Sozialen Konstruktivismus› –, und herkömmliche, bürgerliche, sich dem Kapital ausliefernde Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind nicht in der Lage, über ihren Schatten zu springen und zu sehen, daß ihr wissenschaftliches Wirken ebenfalls nur mit Hilfe von Frames einen Sinn ergibt.

Wie sagte es unser guter Geist, Artus P. Feldmann, vor langer Zeit, in einer seiner legendären Vorlesungen:
«Wo die Sonne der Wissenschaft tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten.»
Finis!



Erstellt: 21. August 2011 – letzte Überarbeitung: 28. August 2011
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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