BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kleine psychologische Skizzen zu Scham, Schuld und Gewissen (2): Scham» von Lisa Blausonne & Henriette Orheim
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1. Eine Szene

Der Hintergrund: Da ist ein Restaurant. Einmal im Monat veranstaltet es einen «Tapas-Abend», um ein wenig für sich zu werben und neue Gäste anzulocken. Für sehr wenig Geld gibt es über zwei bis drei Stunden hinweg fünfzehn kleine Speisen. Das Restaurant verdient daran nichts. Es hofft darauf, daß die Gäste zu den Tapas Wein trinken.

Der Abend: An einem Tisch sitzen vier etwa 40 Jahre alte gut gekleidete Hetero-Paare aus der mittleren Mittelschicht (Kategorie Lehrer und wissenschaftliche Mitarbeiter). An einem Tisch direkt daneben sitzen zwei Kulturphysiognomikerinnen. Ohne Alter. Ohne Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie. Schwebend.

Das Ereignis (welches die Aufmerksamkeit der Kulturphysiognomikerinnen auf diesen Tisch lenkt): Die vier Paare bestellen sich zu den Tapas «Wasser». Auf Nachfrage der Kellnerin: «Nein, kein Mineralwasser! Wir möchten eine große Karaffe mit Leitungswasser!»

Der Höhepunkt: Nach den vielen Tapas, zu dem die vier Paare also nun Leitungswasser tranken, fragt ein Mann aus dieser Gruppe die Kellnerin: «Geben Sie uns noch einen Schnaps aus?» Die Kellnerin fragt die Chefin, die Chefin kommt an den Tisch und bietet für alle acht Personen jeweils einen Grappa an. Der Mann: «Nein, wir möchten keinen Grappa. Haben Sie nicht ein ‹Eau de vie›?» Nach der Einnahme desselben und der Begleichung der kargen Rechnung verlassen die vier Paare gut gelaunt das Restaurant.

Die Scham (1): Ganz offensichtlich schämten sich die Leitungswassertrinker in keinster Weise. Vermutlich hatten sie statt dessen ein sehr gutes Gefühl dabei, für sehr wenig Geld sehr gut gegessen und für die das Essen begleitenden Getränke gar nichts bezahlt zu haben. Dafür spricht die Gelassenheit und die Schläue, mit der sie ihren vermeintlichen Anspruch auf acht Schnäpse erhoben. War da gar ein wenig Stolz dabei, Ansprüche so deutlich geltend gemacht zu haben? Möglich.

Die Scham (2): Die beiden Kulturphysiognomikerinnen am Nebentisch schämten sich für die vier Paare. Warum das? Warum schämten sie sich für die Leitungswassertrinker, während diese selbst sich nicht schämten?

Die Analyse: Betrachten wir zunächst die Leitungswassertrinker. Menschen, die in Gruppen daherkommen, neigen dazu, sich bei der Einhaltung eines wie auch immer und aus welchen Gründen auch immer eingeschlagenen Weges zu übertrumpfen, im positiven Sinne wie auch - in den meisten Fällen - im negativen. Das nennt man gemeinhin Verantwortungsdiffusion und das ist im weiteren für unsere Argumentation uninteressant. Interessant ist, daß keiner der acht Leitungswassertrinker sich in die Lage der Restaurateurin einfühlte. Die vier Paare zeigten eine Zugehörigkeit zu einem sozialen Raum, in dem es offensichtlich Gesetze und Regeln des Sparens und der ‹wirtschaftlichen› Cleverneß gibt.

Nun betrachten wir die Kulturphysiognomikerinnen. Sie schämten sich für die Leitungswassertrinker, da sie sich in die Lage der Restaurateurin einfühlten. Und es war ihnen peinlich, Menschen zu erleben, die sich darüber freuen, jemanden übervorteilt oder gar ausgebeutet zu haben. [1]  Aus Gründen der wissenschaftlichen Objektivität halten wir fest, daß sich die beiden Kulturphysiognomikerinnen im Rahmen der langwierigen Datenerhebung während dieses «Tapas-Abends» nicht mit Leitungswasser begnügten. Statt dessen tranken sie einen großartigen Ramage-la-Batisse von 1998 (Haut-Médoc). Und Mineralwasser. Und einen Aperitif. Und einen Digestif.

Kurz: Da sind also zwei lokale soziale Räume, ganz nah beieinander, benachbart geradezu, in dem einen erfreuen sich acht Menschen an ihrem Verhalten, an ihrem So-Sein, an ihrem zyklopischen solipsistischen Blick auf ihre eigenen Bedürfnisse, und ein Gefühl der Scham entsteht nicht. Und dann sind da die beiden Kulturphysiognomikerinnen, die sich für andere schämen. Die einen Bezugsrahmen, eine andere Seite der Angelegenheit sehen, die sich einfühlen.

Da wir im ersten Teil dieser kleinen Reihe zu Scham, Schuld und Gewissen eine ganze Reihe von Beispielen für Situationen aufgeführt haben, in denen man sich schämen kann oder eben nicht, werden wir es bei der soeben geschilderten Szene bewenden lassen. Denn der Duktus ist klar. In Anlehnung an Agnès Vardas wunderschönen Film «Une chante, l'autre pas» von 1977 halten wir fest: «Die eine schämt sich, die andere nicht.» Warum?


2. Was ist Scham?

Betrachten wir zunächst das Wort «Scham». Interessant ist, daß dieses Wort laut dem ‹Brockhaus in Text und Bild 2004› [2] Die Online-Version wird herausgegeben vom Bibliographischen Institut & der F. A. Brockhaus AG, Mannheim. zum einen die Gesamtheit der äußeren weiblichen Geschlechtsorgane bezeichnet [3]  Wir verzichten hier auf eine nähere Betrachtung dessen, daß Frauen eine «Scham» haben und Männer ein «Gemächte». Immerhin haben aber Frauen und Männer eine «Schamgegend»., zum anderen eine unangenehme Emotion. Da gibt es also ein Wort, welches sowohl einen über Jahrhunderte tabuisierten Bereich des (weiblichen) Körpers benennt, als auch eine Art Unlustgefühl. Und sogleich ergibt sich das Wortspiel, daß ein ‹sich schämen› davon herrührt, seine ‹Scham› gezeigt zu haben. Das halten wir fest.

Nun zum psychologischen Begriff der Scham. Im alten «Dorsch» [4] Friedrich Dorsch (1963): Psychologisches Wörterbuch. 7. Auflage. Hamburg: Richard Meiner. steht dies über die ‹Scham›: «Ein Unlustgefühl, das im sozialen Kontakt vorkommt, z.B. infolge eines tatsächlichen oder vermeintlichen Versagens, einer Verletzung der Anstandsregeln, einer ungeschickten Verhaltensweise u. dgl. Ausdruckserscheinungen sind z.B.: Senken des Blicks bzw. des Kopfes, Erröten, Zittern, Herzklopfen.» [5] Friedrich Dorsch (1963) a.a.O. Seite 296.

Vierzig Jahre später hat sich an der Definition des Begriffs ‹Scham› nichts geändert: Im ‹Brockhaus in Text und Bild 2004› heißt es ganz ähnlich: (Scham ist eine) «selbstbewertende unangenehme Emotion, die sich durch spezifische physiologische (Erröten oder Erblassen, Steigerung der Pulsfrequenz) und bestimmte Verhaltensmerkmale (Vermeidung von Blickkontakt, Abwendung des Gesichtes, Verkleinerung des Körperumfanges) auszeichnet. Innerlich wird ein Versagen vor einer Idealnorm oder vor den Normen einer bedeutsamen sozialen Gruppe in Form eines peinlichen Gewahrwerdens der Andersartigkeit beziehungsweise Minderwertigkeit der eigenen Person erlebt. [...] Scham ist für die Selbsterkenntnis [...] in Bezug auf Gruppen und Kulturzugehörigkeit von erheblicher Bedeutung. [...] (Scham ist die) Bezeichnung für das Unlustgefühl, das man erlebt, wenn man bei Übertretung einer sozialen Regel ertappt wird, etwas Privates von sich in die Öffentlichkeit gezerrt wird, oder man es selbst preisgegeben hat und andere sich darüber amüsieren, oder wenn man sich durch Bekanntwerden einer wirklichen oder vermeintlichen Fehlleistung blamiert fühlt.»

Halten wir vorläufig fest, daß das Gefühl von ‹Scham› offensichtlich nur in einem tatsächlichen oder imaginierten spezifischen sozialen Kontext auftritt, durch ihn bedingt ist und nur in diesem seinen Sinn findet. Die sich ‹schämende› Person muß allerdings die Normen und Erwartungen dieses sozialen Kontextes kennen, um sich ‹schämen› zu können.

Ebenso ist die Bewertung eines Verhaltens als ‹unverschämt› oder ‹schamlos› immer auf einen spezifischen sozialen Kontext bezogen, und diejenigen, die diese Bezeichnungen für das Verhalten anderer Leute verwenden, aber auch diejenigen, deren Verhalten als ‹unverschämt› bezeichnet wird, müssen die Regeln und Erwartungen des sozialen Systems kennen, in dem die o.g. Attributionen eine Rolle spielen sollen. Erst dann läßt sich das Überschreiten von Grenzen, die von sozialen Räumen errichtet wurden, als lokale Unverschämtheit (ersatzweise Respekt- oder Taktlosigkeit) bezeichnen.

Und noch etwas. Der enge Zusammenhang zwischen der ‹Scham› als äußeren (primären) Genitalien einerseits und der ‹Scham› als Unlustgefühl andererseits zeigt sich bis heute in Formulierungen wie «Da fühlte ich mich bloßgestellt!» oder «Da stand ich einfach nackt da!».


3. ‹Drei Mächte› - und die Räume des Schämens

Um sich überhaupt schämen oder um auf andere Menschen ‹unverschämt› wirken zu können, müssen in sozialen Räumen Maßstäbe entwickelt worden sein, an denen man sein eigenes und das Verhalten anderer Leute prüft und vergleicht. Ob jemand in einer bestimmten Situation, in einem bestimmten sozialen Raum, während eines bestimmten Zustandes der Pólis, an einem bestimmten Punkt der großen Zeitläufte ein Gefühl der Scham entwickelt, wird also sozial konstruiert. Das Biographische als soziales Gewordensein entscheidet darüber, in welchen Kontexten und zu welchen Anlässen man sich schämt oder nicht schämt. Es gibt Referenzmodelle, Vorbilder. Für's Schämen oder Nicht-Schämen. Immer. Selbstredend auch in einer Gesellschaft des Spektakels.

«populationen leben den stil der zitate, derer sie mächtig sind», sagt Oswald Wiener. [6] Oswald Wiener (1985): Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman. 1. Auflage der Neuausgabe 1985. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Seite XIII. Dies bedeutet aber auch, daß sich gelebte Zitate, Maßstäbe, Regeln und Verhaltens-Codes sowie die Diskurse über ‹Verschämtheit› und ‹Unverschämtheit› innerhalb sozialer Räume im Laufe der Zeit verändern. Die Bochumer Arbeitsgruppe hat in ihrem Arbeitspapier Nr. 11 («Zur Kulturphysiognomik von Romantik, Moderne und Postmoderne»), dessen Lektüre wir sehr empfehlen, einen Blick auf diesen Lauf der Zeit geworfen, erstaunliche Unterschiede zwischen den Kulturepochen von Romantik, Moderne und Postmoderne ausgemacht und einige Begriffe wie ‹Erziehung›, ‹Kultur› und ‹Menschenbild› über die drei Kulturepochen hinweg dekliniert. Der Begriff der ‹Scham› war nicht dabei. Ihm wenden wir uns nun zu.

Victor Hugo schreibt im Vorwort seines in Deutschland fast vergessenen titanischen Romans «Die Arbeiter des Meeres» [7] Les Travailleurs de la mer. Die Ausgabe, auf die wir uns beziehen: Victor Hugo (2003): Die Arbeiter des Meeres. Aus dem Französischen übertragen und herausgegeben von Rainer G. Schmidt. Hamburg, Li-Hou, Butjadingen: Achilla Presse. von 1866: «Die Religion, die Gesellschaft, die Natur, das sind die drei Mächte, mit denen der Mensch zu ringen hat und die zugleich auch seine drei Notwendigkeiten bedeuten.» Über Jahrhunderte hinweg waren die Menschen diesen drei Notwendigkeiten, diesen Schicksalsmächten ausgesetzt: Den Dogmen, den Gesetzen und den Dingen. Über Jahrhunderte hinweg lebten die Menschen im Mittelpunkt eines Dreiecks gebildet von Religion, Pólis und Natur. Dieses Schicksalsdreieck band die Menschen ein und gab ihnen Halt, auch Sicherheit. Gibt es dieses Dreieck auch heute noch?

Machen wir einen eleganten Schnitt um das Jahr 1970 herum, schauen auf die Zeit davor und danach und betrachten uns ‹alte› und ‹neue› Räume des Schämens.


3.1 ‹Alte› Räume des Schämens

In einer Kultur, in der Hugos Schicksalsmächte von den Menschen noch wahrgenommen werden, spielen, auf die Religion und auf die Pólis bezogen, «Manieren» und «Verbindlichkeiten» eine große Rolle. Schnell entsteht ein Gefühl von Scham in all den Situationen, in denen jemand glaubt, sich gegen Dogmen der Religion oder Regeln der Pólis vergangen zu haben: Also etwa unfreundlich oder dreist gewesen zu sein, sich in einer sozialen Gemeinschaft ungerechtfertigte Vorteile verschafft zu haben, gar einen anderen Menschen psychisch verletzt zu haben und so weiter.

Nehmen wir ein Beispiel, das nur in der Jetztzeit möglich ist, dessen Substanz oder Prototypik aber zu allen Zeiten eine Rolle spielte: Wenn jemand bei einem ebay-Verkauf einen ganz unangemessenen Vorteil und Gewinn einheimst, würde er nach dem Modell vergangener Räume von einer Bezugsperson ein «Schäm Dich!» hören, denn ein anderer Mensch hat für wertloses Zeug viel bezahlt. In den vergangenen kulturellen Räumen scheint eine notwendige aber nicht hinreichende Voraussetzung zur Entwicklung eines Gefühls der Scham also eine gewisse Art von Empathie gewesen zu sein. Um sich schämen zu können, mußte man die Perspektive einer anderen Person übernehmen können. Das haben wir weiter oben schon beschrieben.


3.2 ‹Neue› Räume des Schämens

Heute wachsen sehr viele Menschen (wie viele mögen es sein? 40%, 50%, 60%?) in soziale Räume hinein, in denen so getan wird, als gäbe es Victor Hugos ‹drei Mächte› nicht mehr. Das in den Zeiten des Humanismus und der Aufklärung begonnene und auf die ‹Vernunft› der Menschen hoffende Projekt der Säkularisierung ist demnach mit dem Beginn des zweiten Jahrtausends abgeschlossen. Victor Hugos Dreieck der Schicksalsmächte aus Religion, Pólis und Natur zählt heute nicht mehr. Die alten Mächte haben ausgespielt. Sie werden von vielen Menschen nicht mehr respektiert, anerkannt oder gar bewundert. In ihnen wird keine ‹Notwendigkeit› mehr gesehen. Oder anders, ein postmodernes ‹Ich› kann mit diesen drei Mächten nichts anfangen, da es sich über sie erhebt: Wenn Menschen in der postmodernen Jetztzeit sich den traditionellen ‹drei Mächten› und den diesen immanenten Notwendigkeiten gerne entziehen und damit zeigen, daß sie altertümlichen, hergebrachten, traditionellen, vergangenen sozialen Regeln nicht mehr folgen wollen, dürfte klar sein, daß der oben geschilderte hergebrachte, traditionelle Begriff von Scham - das bei einer Übertretung von religiösen, sozialen oder von der Natur vorgegebenen Regeln auftauchende Gefühl einer Peinlichkeit also - kaum mehr tragen kann. Wir sollten aber nicht meinen, daß sich Menschen in der Postmoderne nicht an Regeln halten. Denn das tun sie sehr wohl. Nur sind es neue Regeln, es sind neue Verbindlichkeiten, die einzuhalten sind. Die Postmoderne ist alles andere als regellos!

Allerdings haben diese neuen Regeln kaum mehr etwas mit dem achtsamen Umgang mit Religion, der Pólis oder der Natur zu tun, sondern eher mit der Präsentation, der Pflege und der Erhöhung der eigenen Person. Es gibt also neue Räume des Schämens. Wenn heute beispielsweise jemand glaubt, anderen gegenüber unfreundlich, unzuverlässig oder dreist gewesen zu sein, sich nicht an ‹alte›, vergangene, überholte soziale Regeln gehalten zu haben, sich ungerechtfertigte Vorteile verschafft zu haben oder gar einen anderen psychisch verletzt zu haben, wird er sich in vielen Fällen (30%? 40%? 50%?) eben nicht schämen, sondern - eher stolz sein. Denn er hat gezeigt, wozu er fähig ist, und daß mit ihm nicht zu spaßen ist. Schließlich ist sich heute jeder selbst der nächste.

Nehmen wir wieder das obige kleine Beispiel: Wenn heute jemand bei einem ebay-Verkauf einen ganz unangemessenen Vorteil und Gewinn einheimst, indem er einen anderen, ‹dümmeren› Menschen viel bezahlen läßt für wertloses Zeug, würde er nach dem Modell neuer Räume von anderen Leuten - Bezugspersonen im eigentlichen Sinne gibt es hier nicht mehr, da jeder selbst sehen muß, wo er bleibt - ein Lob hören. In den neuen kulturellen Räumen scheint es eine Empathie, ein Einfühlen in die psychische Situation einer anderen Person, eine Perspektivübernahme kaum mehr zu geben. Dennoch schämen sich Zeitgeistinhaber auch heute. Denn auch heute beugen sie sich einer, allerdings nur einer Schicksalsmacht. Das müssen wir uns näher betrachten.


4. Die neue Macht

Die totale Säkularisierung unserer Kultur hat mittlerweile dazu geführt, daß man sich kaum mehr neue Profanationen, also Entweihungen und Entwürdigungen, oder gar Tabuverletzungen ausdenken kann. Dennoch wird es auch heute noch viele alte und wenige junge Kulturteilnehmer geben, die die ‹alten Mächte› Religion, Pólis und Natur respektieren und ihnen vielleicht gar mit Demut gegenübertreten. Aber auch diese Menschen - und das ist interessant - beugen sich fast alle ganz selbstverständlich einer neuen Macht, ja einem neuen Gott. Wenn man sich heute im Alltag umhört, entdeckt man Diskurse ohne Zahl, die sich mit günstigen Kaufangeboten, Kaufabschlüssen, Rabatten und cleveren persönlichen Einkaufserfolgen befassen. Was oder wer also ist die ‹neue Macht›, vor der sich fast alle verbeugen, die nicht entweiht werden darf, der täglich Opfer zu bringen sind? Es ist der Markt! Genauer, die Herrschaft des Marktes, die Merkatokratie. Und den Geboten des Marktes nicht zu folgen, dies ist schon ein Anlaß, sich zu schämen!

Im Arbeitspapier Nr. 14 der Bochumer Arbeitsgruppe («Was von der Postmoderne übrig blieb - Zeitgemäße Betrachtungen») heißt es:

«Nachdem im zwanzigsten Jahrhundert sehr viel dafür getan wurde, den entgrenzten Freihandel und seine von ethischen Überlegungen und Zwängen freien Gesetze als kapitalistische Ideologien zu entlarven, erfreuen sich sowohl merkantilistisches Gedankengut als auch seine metaphysische Absicherung im beginnenden dritten Jahrtausend größter Beliebtheit. Mit der Erklärung der Ökonomie zu Religion und Naturgesetz der kapitalistischen Gesellschaft soll natürlich der Rechtfertigungsdruck von den sehr Wenigen genommen werden, die durch die Ausbeutung der vielen Anderen überproportionale Gewinne erzielen. Ist der ungehemmte Wettbewerb einmal zur Religion erhoben, können die vielen Anderen ihre Ausbeutung nicht mehr als Unfreiheit verstehen. Durch die Vergottung von Arbeit und Marktwirtschaft verherrlichen am Ende gerade die abhängig Beschäftigten ihre Hingabe an die Schöpfung fremder Mehrwerte, ja ihr Aufgehen darin. Urs Sommer bezeichnet diesen Prozeß als die Sakralisierung der Ökonomie: ‹Die Strategie besteht darin, diesen Markt, als wäre er nicht von Menschen gemacht, zu einer unangreifbaren Macht zu hypostasieren, der wir auf die eine oder andere Weise zu huldigen hätten.›» [8]  Vgl. Arbeitspapier Nr. 14, Seite 35. Das Zitat von Urs Sommer ist entnommen: Andreas Urs Sommer (2002): Die Kunst, selber zu denken. Ein philosophischer Dictionnaire. Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Band 214. Seite 224. - Frankfurt am Main: Eichborn. Band 1, Seite 126.

Da ist also eine neue Macht, die die Regeln in fast allen sozialen Räumen festlegt. Da gibt es neue Grundgesetze, die akzeptiert und respektiert werden. Und da gibt es den Dämon ‹Geld›, der uns eine Tiefpreiskultur beschert hat. Dies alles ist sorgfältig bereits beschrieben im Arbeitspapier Nr. 14.

Halten wir fest: Da ist ein Abschied zu verzeichnen von drei eher romantisch zu sehenden Schicksalsmächten. Und da ist die täglich, stündlich, minütlich, werbesekündlich mit Pauken und Trompeten begrüßte neue Macht: Der Markt. Der hat seine eigenen Gesetze. Und wenn man sich nicht an diese hält, dann ist dies wahrlich ein Anlaß, sich zu schämen. Die traditionellen Scham-Anlässe mögen also passé sein, dafür gibt es heute neue Gründe, sich zu schämen. Welche?


5. Neue Möglichkeiten des Schämens

Auch heute schämen sich Menschen. Bestimmt. Nur über andere Ereignisse, in anderen Kontexten. Fragen wir uns, was in einer spektaklistischen Kultur ein Gefühl von Scham auslösen könnte. Schämen sich Menschen, die in «Talkshows» übereinander herfallen, sich in Container einsperren lassen, um dann vor Kameras unbekleidet zu duschen, oder sich in beliebigen anderen Profanationen oder vermeintlichen «Tabuverletzungen» aller Art ergehen? Vermutlich nicht. Das Bewußtsein, Teil des Schimmerns der ‹schlimmsten Lichtquelle der Welt› zu sein, wird eher ein Gefühl des Stolzes erzeugen, eine «Ich habe es geschafft!»-Erhebung. Wir kommen gleich darauf zurück.

Scham gegenüber Referenzräumen wie der Pólis, personifiziert durch Lehrer oder Eltern wird es kaum mehr geben. Vermutlich gibt es das Gefühl von ‹Scham› noch gegenüber einer ‹Peergroup. Die meisten ‹Peergroups› jedoch genügen sich selbst, dies heißt, daß sie keine allgemein gültigen Maßstäbe akzeptieren, die in einem positiven Sinne irgendetwas mit einer Pólis zu tun haben könnten, sondern daß sie möglichst genau stratifizierten Regeln für Aussehen, Kleidung und Konduite folgen, die sie selbst nicht aufgestellt haben. Das aber ist ihnen entfallen.

Aber wann schämt man sich denn nun heute? Wann ist denn den neuen Menschen in den neuen postmodernen sozialen Räumen etwas peinlich, unangenehm? In welchen Situationen wollen sie am liebsten ‹vor Scham in den Boden versinken›? Wir haben ein wenig gesammelt und sortiert. Das Gefühl von Scham ist heute denkbar, wenn jemand - ganz abstrakt ausgedrückt - in einer aktuellen Situation zum einen die dem Markt inhärente übergeordnete Logik und zum anderen die gerade geltenden Vorschriften der Ego-Präsentation nicht erkennt oder ihnen nicht folgt. Konkret schämt man sich heute also, wenn man Das soll genügen. Fassen wir die neuen Möglichkeiten des Schämens zusammen, werden wir bei vielen Mitmenschen heute an eine Szene in Robert Aldrichs großartigem «Vera Cruz» von 1954 erinnert: Denise Darcel (als Countess Marie Duvarre): «One Million's enough for me.» Burt Lancaster (als Joe Erin): «It ain't for me. I'm a pig


6. Medienidentität

Welche weiteren Faktoren könnten heute das Auftreten von Schamgefühlen alter Ordnung verhindern? Nun, die Antwort liegt nahe, denn die täglich um die ‹schlimmste Lichtquelle der Welt› versammelte ‹Gesellschaft des Spektakels› hat sich neue Werte geschaffen. Wer heute 24 Jahre alt ist, hat nicht nur 16 Jahre der Kanzlerschaft Helmut Kohls hinter sich, sondern auch 16 Jahre ‹Privat-TV›. Beides hat geprägt. Helmut Kohl und Leo Kirch hatten nur eine essentielle Botschaft: Daß wir uns alle gehen lassen dürfen und daß wir nichts können müssen, um Erfolg zu haben. Man kann die Kernbotschaft von Kohl und Kirch auch so zusammenfassen: «Es geht um nichts mehr, außer um den eigenen Vorteil!» Und mit ‹nichts› ist gemeint: alles ‹Höhere›, ‹Geistige›, ja alles außerhalb der eigenen Person liegende.

So haben die heute 24-jährigen gelernt, daß ‹Inhalte› uninteressant und langweilig sind. Statt dessen haben sie gelernt, syntaktisch fragwürdige, semantisch leere und ichbezogene Schwafeleien und Schwätzereien für Diskurse zu halten. Sie kennen nichts anderes. Neo-liberaler Nonsens-Talk allüberall. Die Beschäftigung mit etwas ‹Höherem› wirkt nach der Ära von Kohl und Kirch - albern! Sollte deswegen in einem TV-Format (oder gerne auch in einem Universitäts-Seminar) tatsächlich mal jemand über den engsten thematischen Bereich hinausdenken, Tiefe hineinbringen, auf Aporien verweisen, den Diskurs spiegeln, nach dem Sinn des Diskurses fragen oder gar einen eigenen Gedanken äußern, wenden sich Kohls Kinder genervt und gelangweilt ab, falls die Moderatorin dieses kurz aufflackernde Geistes-Licht nicht ohnehin sofort austritt.

Einem Gedanken zu folgen ist heute für sehr viele Menschen (60%, 70%, 80%?) nicht nur zu anstrengend, sondern auch - zu langweilig. Das Privat-TV hat in einer unvorstellbaren Weise die Gehirne vieler Menschen weich- und klargespült und ihre geistigen Interessen damit zum Versiegen gebracht. Quatsch zuzusehen wird dagegen als schön empfunden. Wer in seinen Ansprüchen, in dem, was er mag und ‹ertragen› kann, bis zu diesem Punkt fortgeschritten ist, hat in unseren Augen eine Medienidentität. Das müssen wir etwas erläutern.

Ein Mensch mit einer Medienidentität entwickelt eine spezielle Intelligenz, die sich nur auf das Hauptmedium unserer spektaklistischen Kultur bezieht, das TV. Man könnte auch sagen, ein Mensch mit einer Medienidentität existiert nicht wirklich, sondern nur im Moment des TV-Konsums oder in den nachbetrachtenden Sprechversuchen über einen bestimmten TV-Konsumvorgang. Da das TV der Selbstreferenzunterbrecher schlechthin ist, bleiben Menschen mit einer Medienidentität immer weit von sich entfernt. Und das Vertrackte ist, daß sie genau dann, wenn sie während des TV-Konsums zu fühlen glauben, sie seien bei sich selbst, es eben gerade nicht sind.

Eine Medienidentität zeigt sich am ehesten und am deutlichsten am unermeßlich starken Wunsch, ein Teil der Medien zu sein, an ihnen teilhaben zu dürfen. Sei es, daß sich eine von den Medien geformte und genormte Identität einen Abend ohne TV-Konsum gar nicht mehr vorstellen kann (Motto: TV gucken, egal was ist, auch wenn nichts ist.); sei es, daß es ihr schlicht unmöglich erscheint, auf bestimmte TV-Serien zu verzichten; sei es, daß sie das Betrachten von fiktiven Lebenswirklichkeiten jeder realen Wirklichkeit (etwa dem Besuch durch einen anderen Mitmenschen) vorzieht; sei es, daß sie von dem überwältigenden Wunsch bewegt wird, endlich einmal ein Studio von innen sehen und als Klatsch- oder Nickesel eingesetzt werden zu dürfen; sei es, daß sie von ihren ‹persönlichen› TV-Stars Autogramme erbettelt oder sei es, daß eine so von den Medien konstruierte Identität sich mit großem Genuß daran beteiligt, Menschen, in den entsprechenden Formaten, via Telefon abzulehnen, abzuwehren oder hinauszuwerfen. Die Beteiligung an letzterem ist selbstredend die Krönung einer nur durch die Medien existierenden Identität.

Menschen mit einer Medienidentität tun so, als bräuchten sie keinen sozialen Raum mehr. Dabei sind Menschen ohne sozialen Raum gar nicht denkbar. Immer gibt es einen Raum, der die Menschen trägt. Menschen mit einer Medienidentität werden von den fiktiven, den virtuellen sozialen Räumen des TV getragen.

Nun endlich kommen wir auf die Werte zurück, die in der Gesellschaft des Spektakels transportiert werden. Selbstverständlich erfolgt im TV eine Werterziehung. Unbedingt. Nur geht es nicht mehr um die ‹alten› Werte, es geht nicht mehr um die notwendige und prinzipiell unausweichliche Bewältigung von Victor Hugos drei Mächten. Wir können heute sagen, daß das TV alle übrigen ehemals anerkannten werthaltigen Institutionen aus Religion oder Pólis ‹vaporisiert› hat. Das TV liefert keine Edukation, um ‹Gut› und ‹Böse› voneinander unterscheiden zu lernen, statt dessen bietet es vulgäre Trash-Idole, eine ‹ästhetische Primitivisierung› [9] Asfa-Wossen Asserate (2003): Manieren. Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Band 226. Seite 173. und es erzieht zu Utilitarismus und Größenwahn. «Die Unverschämtheit, die Unfähigkeit, Grenzen zu akzeptieren, ist vielleicht der eigentliche Charakterkern der Vulgarität.» [10] Asfa-Wossen Asserate, a.a.O. Seite 115. Und: «Man könnte die Grundposition der Vulgarität vielleicht am besten so beschreiben: Sie besteht in einem Nihilismus, der aber nicht, wie es redlich wäre, zu Verzweiflung und Selbstmord führt, sondern zur Unverschämtheit.» [11] Asfa-Wossen Asserate, a.a.O. Seite 136.

Ein Motto der Jetztzeit könnte sein: «Vorteilsannahme statt Anteilnahme». Oder noch besser: «Ich bin doch nicht blöd, wenn ich einen noch blöderen finde.» Folgerichtig treten im TV oder in der ‹Schmierlappenpresse› täglich Vorbilder auf, die erklären, daß das, was ihnen ganz persönlich nützt, gut ist, daß das, was ihnen schadet, böse ist, und daß das, was anderen Leuten nützt oder schadet, ihnen egal ist. Selbstverständlich erahnen diese spektaklistischen Vorbilder nicht das Geheimnis des Bösen. Wir kommen im vierten Teil dieser kleinen Reihe darauf zurück.

Sollen wir noch untersuchen, welche Leute in einer spektaklistischen Gesellschaft als ‹Idole›, als Werteerzieher schlechthin gehandelt und gefeiert werden? Es sind die Sterne und Sternchen und insbesondere die, die sich endlos darum bemühen, daß die ‹schlimmste Lichtquelle der Welt› niemals erlischt.

Fast alles, was Menschen heute tun, ist auf die mögliche Anwesenheit der ‹schlimmsten Lichtquelle der Welt› ausgerichtet. Eine in diesem Sinne ‹medienintelligente› Person bewegt sich außerhalb der über Jahrhunderte entstandenen Maßstäbe von Bildung, Moral und Manieren. Eine Person mit einer Medienidentität hat kein ‹Format› im alten Sinne, und eben deswegen paßt sie in jedes TV-Format. Und damit sind wir bei der ‹Scham›.

Schämt sich heute jemand, vom immer mitleidslosen Spektakel ins Scheinwerferlicht gezerrt und emotional ausgebeutet zu werden? Nein, keineswegs, das ist doch eine ‹Super-Chance›. Statt dessen schämt sich dieser jemand, eine bestimmte TV-Show versäumt zu haben, die im eigenen sozialen Raum ein ‹must› war!

Schämen sich die Handlanger des Privat-TV, Menschen einzusperren, aufeinander zu hetzen oder sie dazu zu verleiten, sich körperlich oder psychisch zu entblößen? Nein, das nun wirklich nicht. Die Generation ‹Golf›, die Kinder Kohls und Kirchs tun ihre Pflicht, gerne, und sie hassen die ‹68er›, da sie diesen zutrauen, immer noch irgendwelchen Utopien von einer besseren Welt, einer sanfteren Pólis nachzuhängen. Nein, die derzeitigen Handlanger und Sonnenhüter schämen sich vermutlich nur dann, wenn sie ein möglicherweise Quoten-verheißendes neues Format nicht rechtzeitig entdeckt haben, wie etwa derzeit das Ekel-TV.

Sehen wir der ‹Gesellschaft des Spektakels› ins Auge: In den gesättigten spektaklistischen Kontexten der Postmoderne um uns herum ist kein Platz für Mitleid oder Scham in einem alten Sinne. In dieser Gesellschaft, in der die Insassen über eine gut konditionierte Medienidentität verfügen, kann keine Scham in einem alten Sinn entstehen. Diese emotionale Regung, die einen davor bewahren sollte, sich zu entblößen und seine physische ‹Scham› und die damit verbundenen Ausscheidungsorgane zu präsentieren, gibt es kaum noch. Diese alte Scham hat keinen Wert mehr. Eine Marke wie ‹Nike› dagegen ist ein Wert. Und diese Marke, diese Markierung trägt man heute als Abzeichen, als Wappen seines Herrn und Gebieters an seiner Livree mit sich herum - wie das vor einhundertfünfzig Jahren nur bei Lakaien üblich war. [12] Diesen schönen Hinweis verdanken wir Asfa-Wossen Asserate, a.a.O., Seite 68.

Fassen wir zusammen: Es gibt heute Menschen mit einer Identität, die vom wichtigsten Medium geprägt wurde, wir nennen sie eine Medienidentität. Und diese Medienidentität ist das eine, und ein «Soviel ‹Ich› war nie» ist das andere. Beides führt dazu, daß ‹alte› Schamauslöser verschwunden sind: Wenn man nicht mitfühlt oder mitleidet mit demjenigen, dem man etwas angetan hat, wie soll dann ein Gefühl von Scham oder gar von Schuld entstehen, wie soll sich dann ein Gewissen regen? Ein ‹Ich› kann die Perspektive eines anderen Menschen nur dann übernehmen, wenn es da draußen, außerhalb des eigenen grandiosen ‹Ich-Kosmos'›, überhaupt noch etwas sieht und in eigene Empfindungen übersetzt. Da draußen, außerhalb des eigenen ‹Ichs› muß also noch etwas sein, dem das ‹Ich› einen gewissen ideellen Wert beimißt. Wenn das ‹Ich› selbst sein ganzer Wert ist, in wen oder was soll es sich dann noch einfühlen?


7. ‹Übermenschen›

Kommen wir zum Finale dieser kleinen psychologischen Skizze zur ‹Scham› in der Postmoderne. Victor Hugos ‹alte› Mächte haben als ‹Notwendigkeit› ausgespielt. Die Jetztzeitmenschen haben diese Mächte aus ihrem Leben verbannt. Oder besser, sie haben sich über sie erhoben. Heute weiß jeder selbst am besten, was richtig oder falsch ist. Das alte Projekt ‹Aufklärung› ist damit beendet. Jeder bedient sich heute seines eigenen Verstandes. Wirklich? Nein, denn die neue allumfassende Macht des Marktes wird besinnungslos akzeptiert. Doch ein neues Projekt ‹Aufklärung› wird eines fernen Tages auch die Macht des Marktes beenden.

Der obige Diskurs über die Medienidentität hat zu zeigen versucht, wie heute viele Menschen mit einer Grandiosität ihres vermeintlichen ‹Ichs› daherkommen, welches ein Eingehen auf Rechte und Regeln von Religion, Pólis und Natur obsolet erscheinen läßt. Diese vielen ‹gnadenlosen› ‹Ich›-Unternehmer (wie viele mögen es bereits sein? 40 %, 50%?) zeichnen sich durch zweierlei aus: Sie folgen zum einen der Logik des ‹Marktes› (Vorteilsnahme statt Anteilnahme, wir haben es weiter oben schon so genannt) und zum anderen den Gesetzen der Ego-Präsentation. Aus beidem kann keine ‹Scham› im alten Sinne erwachsen. Die neuen Räume und die neuen Möglichkeiten des Schämens sind so zum einen auf den Markt und zum anderen auf die neuen Regeln der ‹Ich›-Präsentation bezogen.

Der ‹Markt› verlangt heute Menschen, die sich jederzeit neuen ‹Herausforderungen› stellen, und die gelernt haben, sich am Markt Vorteile zu verschaffen und sich durchzusetzen. Andere Menschen erscheinen da als Konkurrenten, die ebenfalls darauf aus sind, sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Da heißt es auf der Hut zu sein. Empathie für Mitbewerber, ein Mitleiden, ein Einfühlen in die Rolle des Anderen und eine Reversibilität im sozialen Diskurs kann man sich heute nicht leisten. Interessant ist nun, daß diese Maßgebungen nicht nur für allmächtige Manager im finalen Kapitalismus gelten, sondern auch für jeden anderen, und sei es, daß er nur bei einem Discounter zwei Preise vergleicht. Der Markt hat auch diesen Zeitgenossen im Griff. Auch ‹Dauertiefstpreise› müssen sorgfältig überwacht werden. Und selbstverständlich macht diesen Zeitgenossen gerade die leere Gnadenlosigkeit seines Preisvergleiches zum überragenden ‹Ich›.

In der heutigen Egokratie steht ein ‹Ich› ganz naturhaft in Konkurrenz zu allen anderen ‹Ichs›. Deswegen auch der Dauer-Rekurs auf biologistische Theorien in den einschlägigen Medien. Jedes ‹Ich› muß heute die sich ihm bietenden Vorteile nutzen. Egozentrizität verschafft dabei Lust, Selbstwert und Applaus. Viele vermeintliche ‹Ichs› kommen heute, nein, leider nicht als Über-Ichs (im Sinne Freuds) daher, das wäre ja noch was, sondern als ‹Übermensch›. Diese ‹Übermenschen› akzeptieren - für sich ganz persönlich jetzt - keine Grenzen und Tabus, keine Gesetze und Regeln der Pólis. Das Kleinbürgerliche bei diesen Übermenschen zeigt sich allerdings sofort darin, daß sie selbst weinerlich darauf beharren, daß andere Menschen gefälligst soziale Regeln einhalten. Das ist das Reversibilitätsniveau eines 3-jährigen Kindergartenbesuchers.

Der postmoderne ‹Übermensch› ist ein abgeschlossenes System, das beinahe unbeeinflußbar ist und das keine bewertenden Emotionen für Ereignisse zeigt, die nicht um das eigene ‹Ich› kreisen. Der postmoderne ‹Übermensch› zeigt ein autistisches Ego, welches meint, alles nur aus sich selbst schöpfen zu können. Alle Fragen - falls es überhaupt Fragen innerhalb dieser stupenden ‹Ich›-Gewißheit gibt - werden gestellt nach dem Schema: «Was bedeutet dies für mich?» Stützende soziale Räume werden verlacht. Der postmoderne ‹Übermensch› schämt sich nicht für die Mißachtung ‹alter› Regeln, sondern er setzt sich über diese mit Hohn, Anmaßung, Verachtung und Überheblichkeit hinweg. Jede Psychologin wäre hier mit der Diagnose einer ‹histrionisch narzißtischen Persönlichkeitsstörung› schnell bei der Hand. Zu Recht, vermuten wir. Naht eine Epidemie unbekannten Ausmaßes?

‹Übermenschen› also! Nietzsche sagte einmal: «Denn das ist das Siegel der Freiheit: sich nicht vor sich selbst zu schämen.» Dies ist ein sehr schöner Satz, der vor hundert Jahren, in einer ganz anderen, in einer bigotten Welt, einen Sinn ergab, den sich heute kaum jemand mehr vorstellen kann. Aber die Botschaft dieses Satzes ist in der Jetztzeit angekommen. Heute sind wir von vielen, vielen Histrionikern und narzißtischen Medienidentitäten, kurz, von ‹Übermenschen› umgeben. Wo der Haken dabei ist? Fragen wir Karl Kraus, den ‹Kardinal von Wien›: «Der Übermensch ist ein verfrühtes Ideal, das den Menschen voraussetzt.» [13] Karl Kraus (1986): Aphorismen: Sprüche und Widersprüche; Pro domo et mundo; Nachts. Band 8 der Schriften von Karl Kraus. Herausgegeben von Christian Wagenknecht. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Seite 57.



Kommentare:


13. Juli 2004: Ein Kommentar von Betty

Liebe Lisa, liebe Henriette,

wie Ihr wisst, habe ich ja meine Probleme mit moralischen Begrifflichkeiten, deswegen habe ich mich von Euren jüngsten psychologisierenden Skizzen ferngehalten. Da mich nun die Henriette gebeten hat, doch mal einen Blick drauf zu werfen, bleibt mir wenig anderes, als meinen Unmut zu zügeln.

Was ihr in nicht immer schönen Worten beschreibt, ist die Ausdifferenzierung von Wertsystemen und die daraus resultierende Gleichzeitigkeit der ungleichzeitigen Wertvorstellungen. Hier die romantischen HumanistInnen, dort die modernen Mammonjünger. Solche Gräben sind mir schlicht zu einfach. Anteilnahme wäre aus sozialkonstruktivistischer Perspektive vielleicht gerade für die armen Mammonjünger angebracht, die vollkommen bewußtlos in der sie beherrschenden Ideologie aufgehen. Genau so wie die achsoguten SozialkonstruktivistInnen in ihrem moralischen Universum eingeschlossen sind. Natürlich sympathisiere ich mit Euren hehren Idealen, wieso selbige Euch aber veranlassen, die Menschen am Nachbartisch mit Schmutz zu bewerfen, will sich mir nicht recht erschließen. Natürlich gebe ich solchen Menschen auch gerne einen auf die Glocke, aber vorrangig in der noch immer nicht ganz erloschenen Hoffnung, vom Geklingel könnte jemand wach werden. Diese aufklärerische Komponente fehlt mir in dem Text. Sehr.

Was mich schließlich und endlich - um mich nicht doch noch in Rage zu schreiben - aber besonders stört, ist die ungeklärte Frage, was die achsoguten KonstruktivistInnen eigentlich bei einem Tapasabend machen, bei dem es die Speisen zu einem besonders günstigen Preis gibt. Werfen wir nicht gerade diese Geizgeilheit unseren achsoschlechten Mitmenschen vor? Und wie können wir sie dann anklagen, wenn wir auf den gleichen Pfaden wandeln? Hier wittere ich einen Fall von fortgeschrittener Amerikanie: der offensiven Verfechtung einer Doppelmoral. Und da steige ich aus.

Beste Grüße, Betty

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14. Juli 2004: Ein Kommentar von Artus


Ach Betty,

welch eine Leserinnenbrief, und so in Rage, ohne in Rage zu sein, so voll gezügelten Umutes? Ich habe neulich schon eine unmutige Rage-Mail bekommen mit einer Rehagel-Suada, einer Rehagel-Apologie, einer Rehagel-Entflammung, aber der war ja nicht von Dir. Und nun Dein Leserinnenbrief, nein das geht so nicht.

Also Betty, alles was Du schreibst ist eine punktgenaue Landung in Abwertung und Erhebung: Lisa und Henriette schreiben über Moralisches, womit Du Deine Probleme hast; sie psychologisieren, wovon Du Dich fern hältst; Du schreibst überhaupt nur einen Kommentar, weil Du darum gebeten wurdest, sonst hättest Du Lisas und Henriettes Traktat ja gar nicht gelesen; was Lisa und Henriette schreiben, geschieht in nicht immer schönen Worten (dies ist ein besonders böser Treffer, da Du weißt, wie sehr Henriette, Lisa und die anderen Autorinnen unseres Skepsis-Reservates um eine schöne Sprache bemüht sind); Anteilnahme erwartest Du für die Leitungswasser- und Zusatz-Schnaps-Verlanger, die in Deinen Augen mit Schmutz beworfen werden (Punk for ever); die aufklärerische Komponente fehlt Dir (was ist mit den Kapiteln 3, 4, 5, 6 und 7?); und schließlich moralisierst Du mit einem «Ihr aber!» und einer vermeintlichen Doppelmoral (die Fußnoten solltest Du schon lesen, dann würdest Du sehen, wie das Geizargument den Beobachterinnen gegenüber ganz daneben ist). Ach, Betty, Dein Leserinnenbrief wirkt wie der eines 12-13 jährigen Girlies. Unsere Leserinnenbriefe sind aber erst ab 16. Mit Ausweiskontrolle.

Nun denn,

Artus

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14. Juli 2004: Ein Kommentar von Betty


Lieber Artus, liebe Henriette,

es stimmt, ich reagiere auf Moralien besonders empfindlich. Wir befinden uns damit im Einzugsbereich des persönlichen schwarzen Lochs, um das ich mich drehe. Ich kann meinen eigenen Prinzipien nicht genügen. Würde ich dies versuchen, wäre ich entweder seit längerem über den Jordan, Terroristin oder in der Einsiedelei. So habe ich mit der Zeit eine persönliche Multimoral inklusive diskontinuierlichen Selbstanklagen entworfen. Eine der Konsequenzen ist die Meidung moralischer Wertungen. Ein anderes Problem, wenn Menschen, die mir nahe stehen, den moralischen Zeigefinger heben. Wenn sie es dann tun, ducke ich mich lieber, weil sie sich sonst an ihren eigenen Maßstäben messen lassen müssten. Daher hätte ich wirklich lieber vermieden, diese Texte zu lesen. Da Du mich nun mal aber gebeten hast, Henriette ....

Lasst mich Camus zu Hilfe nehmen. Wie ich ihn verstehe, entsteht eine Art existenzialistische Größe, durch die Annahme der absurden Sinnlosigkeit, um dagegen zu revoltieren, indem persönliche Sinninseln geschaffen werden. Im Bezug auf die Moral hieße dies, anzunehmen, dass Moralien nicht gegeben sind, sondern entworfen werden müssen. Trivial, aber anschaulich. Was mich an Eurem Aufsatz stört, ist dass Ihr verschiedene Sinninseln gegeneinander ausspielt, und zu dem nicht sehr überraschenden Ende findet, dass die auf der anderen Insel irgendwie doof sind. Diese Art Fremdenfeindlichkeit in nicht immer schönen Worten - stupende Ich-Gewißheit, autistisches Ego etc. - würde ich von Menschen nicht erwarten, die wissen, dass Moralien subjektive zeit- und kontextabhängige Entwürfe sind.

Natürlich wäre unsere Welt wohl besser, wenn mehr Menschen teuren Wein zu günstigen Tapas trinken würden. Wenn die sozialen Autisten - um wider Willen dieses Modewort aufzugreifen - es besser wüssten, würden sie es vielleicht sogar auch tun. Der Autismus ist aber nun mal eine Entwicklungsstörung, die es nicht erlaubt, die Sichtweise des Anderen einzunehmen. Was ich Euch vorwerfe, ist eine Art Autismus höherer Ordnung. Sähet Ihr die Menschen am Nebentisch als das was sie sind - Opfer der Merkatokratie - würde vielleicht auch ein wenig Verständnis für sie dabei herausspringen. Um es noch christlicher auszudrücken: Sie sind zwar dumm, aber nicht schuldig, denn sie wissen nicht, was sie tun. Böse wären sie nur, wenn sie die freie Wahl hätten. Und die lässt ihnen die omnipräsente Marktherrschaft nun mal nicht.

Die aufklärerische Komponente, die mir fehlt, wäre rekursiv. Ich wage mich jetzt mal weit vor, mit der Bitte um Entschuldigung: Der Text wiegt die ohnehin Bekehrten weiter im Schlaf der Selbstgerechten. Der Verweis auf den Punk ist daher nicht schlecht, wenn Punk für so etwas wie eine Negation steht. Ich stelle tatsächlich bevorzugt in Frage, und mit Vorliebe die eigenen Anschauungen. In einem Text über Moral hätte ich mir gewünscht, dass nicht schwarzweiße Schubladen aufgemacht werden, um sich am Ende gemütlich in der richtigen zu finden. Viel spannender hätte ich es gefunden, die Grundlagen des eigenen Wertesystems mal zu dekonstruieren und zu schauen, wie die Welt danach so aussieht. Ist vielleicht ein wenig viel verlangt, aber ihr habt nun mal große begriffliche Geschütze aufgefahren.

Das Geizargument wird schließlich auch durch die Getränkeliste nicht sehr geschwächt. Es sei denn, Ihr erklärt mir, dass Ihr diesen sozialen Raum gezielt zu einer kulturphysiognomischen Studie aufgesucht habt oder unwissend in dem Tapasabend gestrandet seid. Den Vorwurf des Moralisierens nehme ich an. Es lässt sich schwerlich vermeiden, in einem Diskurs zu einem moralischen Thema eine moralische Position zu vertreten. Deswegen versuche ich dieses Thema wann immer möglich zu vermeiden. Am Ende ist nämlich alles falsch, aus der einen oder anderen Perspektive.

Eure Betty

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15. Juli 2004: Ein Kommentar von Henriette


Ach nein, Betty,

das macht keine Freude, Dir zu antworten. Du wiederholst - etwas ausführlicher - Deinen ersten Kommentar und moralisierst gegen die Moralisierer. Dabei erneuerst Du Deine «punktgenaue Landung in Abwertung und Erhebung» über uns, Lisa und mich. Warum? Und vor allem, was bleibt? Daß man moralische Wertungen vermeiden sollte? Daß jeder selbst entscheiden muß, was er tut und wann er moralisch handelt? Daß «am Ende alles falsch ist, aus der einen oder anderen Perspektive»? Daß sich jeder in einem Restaurant benehmen kann, wie er das für richtig hält? Gut, dieser Indifferentismus ist heute voll angesagt und wird folgerichtig von beinahe allen Kulturinsassen auch mit Leben gefüllt, nur, Betty, ganz im Ernst, ist das nicht ein wenig dünn?

Lisa und mir ging es in dem Artikel, den Du freiwillig nicht gelesen hättest, um den Begriff der «Scham». Wir sind von einem Beispiel ausgegangen, in dem in einem lokalen sozialen Raum und in einer hübsch übersichtlichen und eingegrenzten Situation sich zwei Leute darüber schämen, daß sich andere Leute nicht schämen. Und wir haben uns gefragt, wie das sein kann. Und dann haben wir viel spekuliert, analysiert und nachgedacht. So haben wir in unserer kleinen kulturphysiognomischen Studie unter anderem versucht, Tja, Betty, Du siehst, wir haben uns viel Mühe dabei gegeben, den Begriff der «Scham» abzuklopfen - aber das interessiert Dich nicht, Du bist in ganz jugendlicher Weise darauf fixiert, daß Lisa und Henriette erst an einem (preiswerten) Tapas-Abend teilnehmen und dann auch noch den moralischen Zeigefinger erheben. Ach, Betty, ist das nicht ein bißchen dünn?

Artus hat mir dringend abgeraten, Dir das folgende zu sagen, weil er gerne möchte, daß Du weiterhin im Betty-Style perseverierst: Die beiden in der Eingangsszene des Artikels zur «Scham» erwähnten Kulturphysiognomikerinnen haben nicht an dem Tapas-Abend teilgenommen. Sie haben à la carte gegessen und es sich schön gemacht. Und die Leitungswassertrinker und Schnaps-Schnorrer haben es sich auch schön gemacht. Nur anders. Darum geht es. Und was das mit «Kultur» zu tun hat. Und mit «Scham».

Schöne Grüße aus Norwegen!

Henriette



Erstellt: 19. April 2004 - letzte Überarbeitung: 19. April 2004
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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