BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Skeptische Bemerkungen zu einigen beliebten Modellen der Verhaltenserklärung (5): ‹Psychologismus›» von Albertine Devilder
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1 Einführung

Wir haben im vierten Teil dieser Reihe gesehen, wie Biologisten eine Fülle von Substanzen ins Spiel bringen, die die Biomaschine Mensch steuern und lenken sollen. Da die moderne Psychologie nun auch gerne eine Naturwissenschaft wäre, ahmt sie das biologistische Modell der Verhaltenserklärung nach und erfindet analog zur Biomaschine eine ‹Psychomaschine› mit einer im Prinzip unbegrenzten Anzahl von Einzelteilen für praktisch jede Lebenssituation. Gut, leider handelt es sich hier nicht um irgendwelche komplexen, spannenden, biochemischen Substanzen, sondern nur um Wörter, aber die können schon beeindrucken. Selbst die Sammelbegriffe für die einzelnen Wörter machen was her: Eigenschaften, Einstellungen, Dispositionen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Bedürfnisse, Interessen, Motive etc. etc. Und natürlich wünscht sich ein psychologistisch denkender und arbeitender Wissenschaftler, daß jedes ihm einfallende Wort auch gemessen werden könne. Denn erst wenn etwas gemessen wird, sieht es nach Wissenschaft aus. Reden und Verstehen kann jeder. Messen nicht. Der Inbegriff des modernen Atomismus in der Psychologie ist die moderne Psychomaschine, ist die Vorstellung vom Menschen als Eigenschaftsbündel! Na, das schauen wir uns mal an!


2 Grundgedanken

2.1 Die wunderbare Welt der Zeichen

Lieber Leser, liebe Leserin, sie haben richtig getippt, auch in den Modellen und Theorien der traditionellen modernen Psychologie hält man oder frau sich nicht an das literarische Vorbild der Moderne. Nein, um die konkreten Lebensäußerungen von Menschen in ihrer konkreten Lebenswelt geht es auch hier nicht. Statt dessen wird eine individualistische Psychomaschine erfunden, die ein Sammelsurium von Dämonen aller Art ist, von Dämonen, die Verhalten verursachen und Verhalten steuern sollen. Konkretes, aktuelles, lebendiges, auf einen situativen Kontext bezogenes, in einem sozialen Raum gelebtes Verhalten wird also wieder einmal nur zu einem Zeichen, zu einem Hinweis auf etwas, was angeblich dahinter liegt.

Das aktuelle Verhalten selbst, die konkrete Lebensäußerung im Hier und Jetzt, verkommt wie in den psychodynamistischen Modellen der Verhaltenserklärung zu einem Symptom für eine in der Person liegende Essenz irgendwelcher Art. Das psychomechanische Denken interessiert sich also nicht für das, was Menschen tatsächlich tun, sondern für die Frage, warum sie es tun. Und dieses Denken ist im Alltag unglaublich weit verbreitet. Nun ja, da jeder wissenschaftlich arbeitende Psychologe zwei bis drei Jahrzehnte lang bereits ein fertig ausgebildeter Naiv-Psychologe war, sollte es uns nicht verwundern, wenn das psychomechanische Denken aus dem Alltag in die Wissenschaft hinein geschleppt wurde. Fassen wir zusammen: Eine sich psychologistisch gebärdende Psychologie in Alltag und Wissenschaft basiert auf der Überzeugung, die Ursachen des Verhaltens von Personen immer in den Personen selbst zu suchen!

Schauen wir uns zur Illustration nur ein Beispiel an, damit wir sagen können, worüber wir reden. Stellen wir uns vor, daß wir erfahren, ‹Simone›, eine alte Bekannte von uns, habe ihre große Liebe, von der sie sich schon vor Jahren getrennt hat, nach langer Zeit wieder einmal besucht. Hier folgen nun einige der psychologistischen Kommentare von Angehörigen ihres sozialen Raumes:
Sollen wir noch weiter hinein hören in den psychologistischen Chor? Oder uns erfreuen an den so rührenden Bedeutung heischenden Füllseln ‹irgendwo› und ‹ganz einfach›? Nein. Fassen wir dieses Beispiel zusammen: Otto Weininger sagt gleich auf der ersten Seite seiner Einleitung zu seinem Traktat über ‹Geschlecht und Charakter›: «Wir erwehren uns der Welt durch unsere Begriffe.» So ist es.


2.2 Die psychologistische Dopplung

Schauen wir uns weiter die wunderbare Welt der Zeichen an indem wir, nein, nicht die wissenschaftliche Persönlichkeitspsychologie befragen, sondern zur Abwechslung die moderne wissenschaftliche Sozialpsychologie. Erstaunlicherweise wird auch hier nicht, wie uns das Wort ‹sozial› eigentlich vermuten ließe, das Leben von Menschen in ihren sozialen und kommunalen Räumen beschrieben. Statt dessen wimmelt es in der sozialpsychologischen Psychomechanik von zig mystischen anthropologischen Dämonen, die uns durch unseren sozialen Alltag schieben, bewegen und drängen sollen. Hinter jedem gezeigten Verhalten, hinter jeder Lebensäußerung steckt also etwa eine Einstellung, ein Vorurteil, oder ein Bedürfnis nach Kontrolle, nach Sicherheit, nach Anerkennung, oder ein soziales Motiv wie Geselligkeitsstreben und Hilfsbereitschaft, oder ein Trieb wie Aggression, oder oder. Jedes beobachtbare Verhalten wird also mit irgendeinem in der Person schlummernden Dämon ‹verdoppelt›.

Diese ‹psychologistische Dopplung› ist äußerst interessant, da sie tagtäglich in Alltag und Wissenschaft in größter Selbstverständlichkeit vollzogen wird. Die Ursachen von Verhalten in sozialen Räumen sind verschiedene Motive und Strebungen. Jedes dieser Motive dient dazu, ein Verhalten ‹x› mit einem entsprechenden Streben nach einem Verhalten ‹x› zu erklären. Oder anders: Ein Mensch zeigt ein bestimmtes Verhalten ‹x›, weil er ein Streben nach dem Zeigen dieses bestimmten Verhaltens ‹x› hat. Ist das nicht eine wunderbar tautologische und damit unbestreitbar immer wahre Kausalerklärung für alle nur denkbaren Verhaltensfälle des Lebens? Ja, aber keiner merkt es. Doch, halt, Sie, lieber Leser und liebe Leserin, sie stutzen und schütteln den Kopf. Zu Recht.

Naturgemäß stellt sich auch die Frage, wie sich diese psychologistischen Dämonen denn unterscheiden und auseinander halten lassen. Nun, liebe Leser und Leserinnen, fragen Sie bitte nicht mich. Sondern schlagen Sie mal zu Ihrer Unterhaltung irgendein Lehrbuch der ‹Sozialpsychologie› auf und zählen alle ihnen entgegen wehenden Dämonen. Sie werden sich wundern. Soll ich mal einige aufführen, die Sie bestimmt entdecken werden? Ok: Auch in anderen Bereichen der Psychologie gibt es psychologistische Dopplungen. Am naivsten kommen sie in der Pädagogischen Psychologie oder in der Pädagogik daher:
Geht es noch schlichter? Nein. Hinter allen schulischen Leistungen stecken also spezifische Fähigkeiten und Eignungen, die vermutlich angeboren sind und die gemessen werden können. Großartig? Nein! Aber jetzt im Ernst: Auf was zeigen eigentlich die Ergebnisse in Klassenarbeiten, Tests oder Klausuren in Schule und Universität, auf was verweisen diese Leistungen? Nun, Heinz von Foerster sagt es uns, denn er bezeichnet Fragen, deren Antwort bekannt sind, als ‹illegitime Fragen›:

«Wäre es nicht faszinierend, ein Bildungssystem aufzubauen, das von seinen Schülern verlangt, Antworten auf ‹legitime Fragen› zu geben, d.h. auf Fragen, deren Antworten unbekannt sind?» [1] Heinz von Foerster (1985): Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Braunschweig/Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn. Seite 13. Und so beklagt Heinz von Foerster, daß unser Bildungssystem aus ehemals ‹nicht-trivialen› kybernetischen Personensystemen ‹triviale› macht:

«Tests sind Instrumente, um ein Maß der Trivialisierung festzulegen. Ein hervorragendes Testergebnis verweist auf vollkommene Trivialisierung: der Schüler ist völlig vorhersagbar und darf daher in die Gesellschaft entlassen werden. Er wird weder irgendwelche Überraschungen noch auch irgendwelche Schwierigkeiten bereiten.» [2] Heinz von Foerster (1985), ebenda.

Kehren wir zurück in fabelhafte Welt der Zeichen und psychologistischen Dopplungen und halten noch flüchtig und kursorisch fest, daß die Psychomechanik ihre größten Erfolge in einem Bereich feiert, denn man ‹Eignungsdiagnostik› nennt. Deren Argumente kennen wir schon aus der Pädagogik: Für jeden Beruf, für jede Tätigkeit braucht der Mensch eine bestimmte Eignung und die kann man - Gott sei Dank - mit Hilfe von Tests messen. Ja, da lacht der Diagnostiker, hier ist er auf dem Höhepunkt seiner Arbeitszufriedenheit, denn hier stehen ihm ganze Batterien von Tests zur Verfügung, mit denen er auf die Untersuchungsobjekte zielen und nicht nur die folgenden Fragen beantworten darf: Schließen wir diesen Punkt ab. Die moderne Psychologie, die so gerne eine Naturwissenschaft und damit eine ‹richtige› Wissenschaft wäre, erfindet Dämonen aller Art, zaubert diese in die Menschen hinein und behauptet dann, daß diese Dämonen das Verhalten von Menschen bestimmten. Wie diese psychomechanischen Dämonen nun genau wirken, wo der Zusammenhang zwischen Eigenschaft und Verhalten ist, das weiß keiner, das interessiert aber auch keinen. Hauptsache ist, die Eigenschaften gibt es und wir können sie messen! Wie das? Gleich mehr dazu!


2.3 Annahmen zur Struktur

Wir haben weiter oben einen Bogen um die moderne wissenschaftliche Persönlichkeitspsychologie gemacht. Nun aber möchten wir doch ganz kurz auf die heute gehandelten Strukturen wie Eigenschaften, Merkmale, Dispositionen, Anlagen und Fähigkeiten eingehen, die sich als Bausteine zu einer psychomechanischen Maschine zusammensetzen lassen sollen. Wir fragen uns nicht, wie viele Eigenschaften denn heute so gehandelt werden, wie viele oder wie wenige Eigenschaften heute in uns vermutet werden. Das ist nicht so interessant. Spannender ist die psychologistische Überzeugung, daß die Strukturen, also etwa die ‹Eigenschaften›, sich stabil über Raum und Zeit auswirken! Wenn einer etwa die Eigenschaft ‹Aggression› in sich birgt, muß diese schon über viele Jahre hinweg wirksam sein und sich im Verhalten in vielen oder gar allen Situationen und Kontexten äußern, sonst wäre es sinnlos, von Eigenschaften zu reden. Das ist ein schöner Gedanke, der auf den Psychologismus zurück fällt: Moderne psychologistische Modelle der Verhaltenserklärung stehen und fallen mit der Stabilitätsannahme über Raum und Zeit.

Noch eine kleine Bemerkung zur Sprache des Psychologismus. Hat man sich erst einmal auf die Existenz von Eigenschaften geeinigt, kann man sprachlich viele Unterscheidungen treffen: So lassen sich Eigenschaften als ‹deskriptive› oder ‹explikative› Konstrukte bezeichnen, oder wir können geheimnisvoll von ‹allgemeinen› Eigenschaften sprechen, die alle Menschen haben sollen, und von ‹einzigartigen› Eigenschaften, die nur bei bestimmten Leuten zu finden sein sollen. Wem das nicht reicht, dem können wir noch etwas erzählen von grundlegenden Eigenschaften, sogenannten ‹source traits›, und oberflächlichen Eigenschaften, den ‹surface traits›, wobei die grundlegenden Eigenschaften natürlich die oberflächlichen Eigenschaften steuern. Aber das ist noch nicht alles: Wir können auch etwas erzählen über ‹dynamische› Eigenschaften, ‹Fähigkeits-Eigenschaften›, ‹Temperaments-Eigenschaften› usw. usw. Da die Rede über Eigenschaften zutiefst in der Alltagssprache verwurzelt ist, kann es hier kein Ende geben. Nur bei mir, denn jetzt wird es mir zu bunt.


2.4 Annahmen zur Dynamik

Hier gibt es nicht viel zu sagen, denn energetische oder dynamische Elemente und Wirkfaktoren der Psychomaschine werden wie Strukturelemente behandelt. Struktur-Dämonen und Dynamik-Dämonen fallen oft ineinander. Um über die Dynamik der Psychomaschine reden zu können, erfinden wir einfach Worte wie ‹Leistungsmotivation› oder irgendwelche ‹Bedürfnisse›, ‹Interessen› und ‹Neigungen›. Kurz, die ‹Motivation› ist der aktivierende Teil der menschlichen Psychomaschine. Die sogenannte Motivation setzt die einzelnen funktionellen Strukturen in Gang. Und wenn mal was schief gegangen ist im Verhalten, dann war man eben nicht ‹motiviert›. Herrlich, das können heute schon Fußballspieler aufsagen.

Da es keine prinzipiellen Unterschiede zwischen Struktur-Eigenschaften und Energie-Eigenschaften gibt, und da keiner weiß, wo die Eigenschaften und die Motive eigentlich herkommen und wie sie das Verhalten nun tatsächlich beeinflussen oder steuern, eilen wir weiter, bevor uns schwarz vor Augen wird!


2.5 Psychometrie

Jetzt kommen wir zu einem weiteren Höhepunkt der modernen psychologistischen Modelle der Verhaltenserklärung: Hier wird gemessen! Gemessen? Ja, gemessen. Die Befunde psychologistischer Forscher kommen in Zahlen daher! Wie könnte das gehen? Durch Psychometrie! Was ist Psychometrie? Psychometrie ist das Messen von Eigenschaften mit Hilfe von Tests. Die Aufgabe des psychometrischen Forschers ist es also, zu jedem Wort, das ihm einfällt, ein Meßinstrument zu entwickeln. Und - kaum zu glauben - es gibt tatsächlich fast zu jedem Wort, das irgendeinem Psychometriker jemals eingefallen ist, auch ein Meßinstrument. Wenn es aber so viele Tests gibt, kann die Entwicklung eines Tests nicht schwierig sein. Das kann dann ja wohl jeder. Richtig. Nur, auch wenn das ganz einfach ist, wie lassen sich denn nun Eigenschaften messen?

Nun, dazu habe ich in einem anderen Traktat hier im Skepsis-Reservat einen netten Dialog, ein kleines Zwiegespräch entworfen zwischen einem wißbegierigen jüngeren Studenten und einem leicht zynischen älteren Professor: Psychometrie. Lesen Sie den Dialog jetzt, denn er ist ‹wirklich› sehr lustig.


3 Konsequenzen

Wenn wir Menschen als Eigenschaftsbündel und Psychomaschinen sehen, hat das verschiedene Konsequenzen, die ich jetzt mit Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, durchdenken möchte. Wozu führt diese psychomechanische Denkweise? Welche Einwirkungsmöglichkeiten gibt es? Ist Veränderung möglich? Wie wird mit Menschen umgegangen?


3.1 Atomismus und die empiristische Logik

Wir konnten in dem oben genannten Dialog zur Psychometrie gut verfolgen, wie die moderne Psychologie im Messen von Eigenschaften ihren absoluten Höhepunkt erreicht! Endlich gibt es Untersuchungsprinzipien, also Tests, die den Anschein der Wissenschaftlichkeit erwecken. Und sie folgen der Regel: Wollen wir irgendetwas untersuchen, müssen wir es in seine Einzelteile zerlegen. Das glaubt jeder zu verstehen!


3.2 Wie wird auf Abweichungen reagiert?

Wie bei der Biomaschine und wie in psychodynamistischen Modellen: Mit Individualisierung, Pathologisierung und Isolierung. Abweichende, störende Psychomaschinen werden für sich betrachtet, die Störung wird individualisiert, sie soll mit den Lebenszusammenhängen, die die Psychomaschine erst haben abweichend und störend werden lassen, nichts zu tun haben. Und Pathologisierung und Isolierung folgen auf dem Fuße.

Noch etwas ist sehr auffallend, wenn ich mir ausnahmsweise einmal eine zynische Bemerkung erlauben darf: In der psychologistischen Psychopathologie und Psychiatrie, um die ich aus guten Gründen in diesem Traktat einen großen Bogen gemacht habe, werden derzeit an die tausend verschiedene Diagnosekategorien gehandelt und diskutiert. Diesen tausend Wörtern steht aber auf der psychomechanischen Therapieseite kaum etwas gegenüber. Der Feinfieseligkeit der diagnostischen Unterscheidungen entspricht keine Feinfieseligkeit im therapeutischen Vorgehen. Es gibt in psychologistischen Modellen der Verhaltenserklärung in aller Regel eine Einheitstherapie: Alle Patienten werden gedämpft. Oder sollen wir sagen: Satt, sauber, sediert?


3.3 Ist Veränderung möglich?

Ist eine Veränderung möglich, wenn die Psychomaschine aus Eigenschaften besteht, die stabil über Raum und Zeit sein sollen? Tja, eigentlich sind Veränderung in diesem Modell nicht vorgesehen. Wir sehen hier also einen sehr interessanten Widerspruch zwischen der Vorstellung von stabilen Eigenschaften und der mutmaßlichen Änderung von Eigenschaften durch eine Psychotherapie. Etwas stabiles kann ja eigentlich gar nicht geändert werden. Bei einer klaren und ‹objektiven› Diagnose wie ‹Hohe kriminelle Energie›, ‹Psychopathie› oder ‹Schizophrenie› ist eigentlich keine Psychotherapie möglich und nötig, sondern nur noch eine angemessene Verwaltung der Abweichung, also eine behördliche Registrierung des Abweichenden, eine sanft dämpfende Medikation und eine angemessene Verwahrung in Verwahranstalten! Und genau das geschieht! Nicht immer, aber immer öfter. Jetzt wird Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, auch mit einem Mal klar, aus welcher Logik dieser Verwaltungs- und Verwahrungsgedanke kommt! Warum sollten wir versuchen, etwas zu ändern, was gar nicht änderbar ist? Alles klar?


3.4 Wie wird mit Menschen umgegangen?

Wieder einmal möchte ich an das Menschenbild der Romantik und die ‹humanistischen› Modelle der Verhaltenserklärung erinnern: Hier stehen sich einzigartige Subjekte ehrfurchtsvoll gegenüber. Was wird in der Moderne daraus, wie wird in der Moderne mit Menschen umgegangen? Nun, das habe ich schon in den beiden vorausgehenden Traktaten skizziert: Aufgrund des riesengroßen Gefälles zwischen wissenden Fachleuten und unwissenden Laien, zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen also, läßt sich vielleicht der folgende nun wirklich vollends zynische Dreiersprung rechtfertigen, der die Kultur der Moderne kennzeichnet: «Erst warten, dann abgefertigt werden, dann einen Bescheid kriegen.»


4 Erwägungen

Was läßt sich zum in Alltag und Wissenschaft so weit verbreiteten und strapazierten psychologistischen Modell der Verhaltenserklärung sagen? Tja, lieber Leser und liebe Leserin, werden Sie mit diesem Traktat zum ersten Mal zum Nachdenken über die mögliche Fehlbarkeit des konventionellen psychomechanischen Reduktionismus angeregt, so werden Sie vermutlich aufgeregt und aufgebracht nach Einwänden suchen, die Ihnen dabei helfen könnten, das Verhalten von Menschen weiter so erklären zu dürfen, wie sie es bisher schon getan haben. Geben Sie diesem Impetus nach, haben Sie Ihre Ruhe wieder. Sollten bei Ihnen aber vorsichtige Zweifel am gewohnten und tradierten Sprechen über Menschen entstehen, so empfehle ich Ihnen, diesem auftauchenden Unglauben, diesen skeptischen Bedenken, nachzugeben und sich aus dem alltäglichen, eingefahrenen, gängigen, ordinären, vertrauten Verhaltenserklärungs-Talk zu verabschieden. Das wird Ihr Leben verändern.


4.1 Die drei Denkfehler des Psychologismus

Die eigenschaftsorientierte, psychomechanische Denkweise macht drei Fehler: Zum einen wird das tatsächlich beobachtbare Verhalten psychologistisch verdoppelt, zum anderen wird behauptet, daß Verhaltenszeichen immer und universell auf irgendetwas Dahinterliegendes verwiesen. Und als drittes erinnert die psychologistische Denkweise an einen ‹naturalistischen Fehlschluß›. Schauen wir uns das an:
Im Alltag dürfen Menschen ja erklären und erfinden wie sie lustig sind. Aber kann eine ‹Wissenschaft› Psychologie mit den üblichen psychologistischen Verdoppelungen, dem behaupteten Universalismus der Zeichen und dem zum naturalistischen Fehlschluß neigenden Denken ‹wirklich› ein Wissen schaffen, indem sie auf die genaue Beschreibung von Lebensäußerungen von Mitmenschen in kommunalen Systemen verzichtet? Erspart sich diese ‹Wissenschaft› nicht das genaue Hinsehen durch leichtfertig dahin geworfene Begriffe? Hm.


4.2 Der Distanzmythos

Der Grundgedanke der ‹Psychometrie› lautet, daß man ‹Eigenschaften› von Menschen nur ‹messen› kann, wenn man mit ihnen nicht fraternisiert: Fragebogen austeilen, Stoppuhr an und aus, Fragebogen einsammeln, Schablone drauf, fertig. Da die Daten für sich sprechen sollen, kann eine Nähe zu den untersuchten Mitmenschen die Daten nur verfälschen. Der Mythos von der unbedingt erforderlichen Distanz zwischen Untersuchenden und Untersuchten ist im Psychologismus mächtig und virulent. Eine bescheidene Frage: Wie sollen wir über jemanden etwas erfahren, wenn wir ihn uns vom Leibe halten? Wie sollen wir aus jemandem klug werden, wenn wir uns für den Sinn, den ein Einzelner seiner Beantwortung irgendeiner Frage beimißt, eben gerade nicht interessieren?


4.3 Der Objektivitätsmythos

‹Objektivität› ist ein ganz wichtiges Wort im Psychologismus. Darunter versteht man nicht nur die eben skizzierte Forderung nach Distanz, sondern auch eine möglichst vollständige Standardisierung von Meßvorgängen (Motto: Bei uns werden alle gleich behandelt!). Nun, leider sagt eine Standardisierung (Motto: Jeder bekommt die gleichen Fragen!) nichts aus über die Qualität dessen, was da gerade gemessen werden soll. Wie kommt ein vernunftbegabtes Wissenschaftler-Wesen nur auf den Gedanken, daß alle Fragen von den untersuchten Mitmenschen gleichsinnig verstanden werden? Die untersuchten, getesteten, geprüften Subjekte reagieren doch nicht auf die Fragen selbst, sondern darauf, wie sie die Fragen interpretieren, verstehen, welchen Sinn sie ihnen geben. Und dies wird stark beeinflußt werden von den sozialen Räumen, in denen die Untersuchten zur Person wurden.


4.4 Die Rolle der Sprache

Wir müssen uns die so weit verbreitete Haltung, ein Verhalten mit einem ursächlich verstandenen Wort zu verdoppeln, noch etwas näher betrachten. Dieses so scheinbar harmlose Wirken der Sprache läßt sich sehr gut an Hand der Begriffe ‹Essentialisierung›, ‹Ontologisierung›, ‹Substantivierung›, ‹Objektivierung› und ‹Reifizierung› beschreiben. Stellen wir uns vor, wir beobachteten das Verhalten eines Menschen innerhalb eines kommunalen Systems und sagten: «Der benimmt sich aber aggressiv!» Dann fragen wir uns untereinander: «Warum benimmt der sich denn so aggressiv?» Die nahe liegende Antwort: «Der benimmt sich aggressiv, weil er ein aggressiver Mensch ist und einen Aggressions-Trieb in sich hat.» Nett? Ja.

Hier taucht ein großes sprachliches Problem auf: Das mit dem Eigenschaftswort ‹aggressiv› Gemeinte wird zu einer Art ‹wirklich› existierender Essenz, es wird ‹essentialisiert›. Darüber hinaus wird das mit dem Eigenschaftswort ‹aggressiv› Gemeinte zu einem Ding innerhalb der Wirklichkeitswelt gemacht, es wird ‹ontologisiert›. Das genügt aber noch nicht, denn das mit dem Eigenschaftswort ‹aggressiv› Gemeinte wird auch noch ‹substantiviert›, aus einem Adjektiv ‹aggressiv› wird mit leichtem Mund das Hauptwort ‹Aggression›. Und jetzt wird es noch spannender, denn sobald wir das mit dem Eigenschaftswort ‹aggressiv› Gemeinte mehrere Male in das Erklärungswort ‹Aggression› haben fließen lassen, klingt das Gemeinte schon objektiv, essentiell, ontisch, d.h. es klingt, als gäbe es einen Phänomenbereich ‹Aggression› außerhalb unserer Sprache. Und je öfter wir das Wort ‹Aggression› verwenden, desto sicherer werden wir uns beim Gebrauch desselben. Das Wort ‹reifiziert› sich, es vergegenständlicht, ja objektiviert sich durch den Gebrauch und im Gebrauch. Durch das Aussprechen im Diskurs wird aus einem einfachen und unschuldigen Wort im kurzen Lauf der Zeit eine ‹objektive› Tatsache der Dingwelt.


4.5 Der gesellschaftliche Nutzen des Psychologismus

Der zu einem Denken in Eigenschaften führende Psychologismus hat einen hohen gesellschaftlichen ‹Nutzen›. Wie ich weiter oben schon geschildert habe, ermöglicht er es, in allen Situationen der Eignungsfindung und Eignungsüberprüfung mit psychometrischen Verfahren bei der Hand zu sein. Institutionen aller Art können und dürfen Menschen plazieren, klassifizieren, segregieren, und selegieren. Forensische Gutachter etwa stellen die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen fest, verkehrspsychologische Gutachter stellen die Fähigkeit zur Führung eines Kraftfahrzeuges fest, Feststellungen überall. Das psychologistische Modell der Verhaltenserklärung hilft also in allererster Linie dabei, Entscheidungen über Menschen zu fällen und Lebenschancen zu vergeben. Da aber der ‹gesunde Menschenverstand› und die moderne traditionelle, psychologistische Psychologie hier die gleiche Leib- und Magentheorie haben, finden (fast) alle Bürger und Bürgerinnen dieses Landes, daß das in Ordnung ist.


5 Die Logik des modernen Reduktionismus

Blicken wir zurück auf den biologistischen und psychologistischen Reduktionismus der Moderne: Was heißt Reduktionismus und wozu dient er?
6 Schluß

Lieber Leser, liebe Leserin, ich weiß, daß Sie während der Lektüre dieses Traktätchens etwas ungeduldig geworden sind, weil Ihnen der Begriff ‹Psychologismus› von Anfang an etwas seltsam vorkam und Sie nicht verstehen wollten, warum dieser Terminus nicht, wie in jedem anständigen Traktat, gleich zu Beginn definiert wurde. Ach, ich danke Ihnen für Ihren Langmut und werde jetzt hurtigst zur Erklärung des Unterschiedes zwischen ‹Psychologismus› und ‹Psychologie› schreiten, obwohl Sie es jetzt selbst sagen könnten:

‹Psychologistische› Modelle kümmern sich nicht um das, was ‹wirklich› geschieht, was Menschen ‹wirklich› tun, sondern sie verdoppeln das, was geschieht, mit Erfindungen aller Art. Und mit Hilfe dieser Erfindungen kleben sie die Menschen auf eben diesen Erfindungen fest. Möglichst ein für allemal.

Eine ‹Psychologie› nach meinem Geschmack aber würde mit einem Modell aufwarten, in dem konkrete Lebensäußerungen von Menschen in ihren konkreten sozialen Räumen betrachtet und dekonstruiert und Menschen Entwicklungsmöglichkeiten eingeräumt würden. So einfach ist das. Lesen Sie den Bochumer Bericht Nr. 5, wenn Sie sich für die Details einer Sozial-konstruktivistischen Psychologie interessieren.

Das Schlußwort erteile ich Gregory Bateson. Er nennt die biologistischen, psychologistischen und reduktionistischen Erklärungen - ‹dormitive› Erklärungen, da sie unseren Verstand in den Schlaf wiegen und zu Bett tragen.



Erstellt: 20. Januar 2006 - letzte Überarbeitung: 20. Januar 2006
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