BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Zur Notwendigkeit eines ‹Neuen Realismus›»
von Helmut Hansen & Henriette Orheim
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Prolog

«I never meant to say
that the Conservatives are generally stupid.
I meant to say that stupid people are generally conservative.
I believe that is so obviously and universally admitted a principle
that I hardly think any gentleman will deny it.»
(John Stuart Mill, 1866)

Wir müssen etwas weiter ausholen, damit wir wissen, um was es geht. Der finale Kapitalismus blüht und hastet von Erfolg zu Erfolg. Ja, er ist eine einzige Erfolgsgeschichte. ‹Wirtschaftsjournalisten› bemühen sich, als Prostituierte des Kapitals an dieser Erfolgsgeschichte mitschreiben zu dürfen. So beherrscht der Ökonomie-Jargon unsere Sprache. Bis hinunter zum schwächsten Mitbürger, der immerhin in der Lage ist, zwei Preise für ein Produkt vergleichen zu können und zu wissen, wie viel ‹Pfand› eine aus einem öffentlichen Mülleimer geborgene Plastikflasche einbringt.

Menetekel an der Wand werden nicht gesehen. Falls doch, falls Kollateralschäden mal kurz im öffentlichen Bewußtsein auftauchen, werden sie flugs weggeschrieben. Die immensen Schulden der Staaten, Länder, Gemeinden? Ist ok. Die brauchen nie bezahlt werden, sagt ein berühmter ‹Wirtschaftsjournalist›. Schulden sind sogar gut, Kredite sind vernünftig! Armut? Unsinn! Zwanzig Prozent aller Arbeitnehmer ‹verdienen› so wenig, daß es kaum zum Lebensunterhalt reicht? Quatsch:
«‹Jeder muss von seiner Hände Arbeit leben können. Es darf nicht sein, dass Firmen ihre Geschäftsmodelle darauf aufbauen, dass der Staat den niedrigen Lohn, den sie zahlen, noch aufstockt. Firmen, die es nicht schaffen, einen auskömmlichen Lohn zu zahlen, brauchen wir nicht.› Das sind Sprüche aus den vergangenen Monaten, denen vermutlich zwei Drittel der Deutschen zustimmen. Aber es sind die dümmsten Sprüche des Jahres.» [1] So der freundlich-bärtige Ökonom, Hochschullehrer, Buchautor und Präsident eines Institutes für Wirtschaftsforschung am 28.12.2007 in der Süddeutschen Zeitung.
Sehr wichtig ist, zu erkennen, daß das, was der freundlich-bärtige Ökonom hier sagt, keinesfalls ideologisch geprägt sein kann! Nein, was er sagt ist real und vernünftig! Er ist einem ökonomistischen ‹Realismus› verpflichtet, keiner Ideologie! Ob er wohl ‹konservativ› gestimmt ist?

Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer? Das ist rot-grüne Ideologie, die mit der Wirklichkeit nix zu tun hat! Sehr lustig ist es, wenn ein ohnehin geschönter und gestutzter ‹Armutsbericht› einer Regierung in den ‹konservativen› Medien weiter geschönt und gestutzt wird. Das muß so sein, da der finale Kapitalismus ja eine einzige Erfolgsgeschichte ist.

Die wenigen Kulturinsassen, die noch den Kopf oben halten können und nicht zum Bodenseher geworden sind, haben längst gemerkt, daß der Staat heute nicht mehr die Aufgabe hat, dafür zu sorgen, daß Einkommensunterschiede ‹sozialverträglich› bleiben und man von seiner Hände Arbeit leben kann. Deswegen rufen Christen auch immer wieder: ‹Mindestlöhne sind unsozial›.

Wohlstand, Bildung, Sozialversicherung und Sicherheit für alle, das war einmal. Nur, das muß ja auch begründet werden. Wie kann das funktionieren? Nun, genau darum geht es in diesem Traktätchen. Fangen wir an!


Der Kapitalismus braucht einen ‹Neuen Realismus›

Alles, was geschieht, muß in der Sprache so verkleidet werden, daß es ‹alternativlos› erscheint. Deswegen gibt es ja auch regelmäßig ‹Nachrichten› – als Gelegenheit der Regierung. Dazu kommen genau so regelmäßig öffentlich-rechtliche Diskussionsrunden in Talkshows, wo die Allzweckwaffen der ‹Herren des Wörterbuchs› dem Publikum immer wieder erklären können, warum der Kapitalismus eine Erfolgsgeschichte ist und man diesen in seinem Erfolgs-Lauf auf keinen Fall bremsen dürfe.

Ganz wichtig ist es aber auch, die Universitäten zu besetzen und die Gespenster von Freiheit und Schönheit aus den Wissenschaften zu vertreiben. Abschied von der Universität? Oh ja. Zunehmend definiert das Kapital, was erforscht wird und welche Forschungsbefunde dann veröffentlicht werden dürfen. Das geht. Und das geht so weiter.

Und wir brauchen eben dringend Wissenschaftler, die uns immer wieder erklären, das alles in Ordnung ist, wenn, wie oben erwähnt, über 20 Prozent der Arbeitnehmer mit Billiglöhnen leben müssen.

Das Kapital kann auch eine Professur für ‹Wirtschaftsethik› einrichten. Wirtschaftsethik? Genau! So sagt ein bekannter Münchener Wirtschaftsethiker zu dem exorbitanten Gehaltsunterschied zwischen Herr und Gescherr:
«Ich kenne keinen einzigen Lehrsatz in der Ethik, aus dem sich eine Gehaltsobergrenze ableiten ließe.» [2] Süddeutsche Zeitung vom 21. Mai 2003. Vgl. auch das Arbeitspapier Nr. 14, Seite 48.
Ist das nicht allerliebst? Klar, es muß dem ‹Markt› überlassen bleiben, das richtige Gehalt festzusetzen. Das ist nur real und vernünftig! Dieser ‹Wirtschaftsethiker› ist allein einem ökonomistischen ‹Realismus› verpflichtet, keiner Ideologie! Ob er wohl ‹konservativ› gestimmt ist?

Und natürlich fragt ihn keiner: Aber was heißt denn jetzt «in der Ethik»? Welche Ethik meint der Wirtschaftsethiker? Die eine? Gibt es nur eine? Gibt es nur die Ethik des ‹freien Spiels aller Kräfte des Marktes›?

Wir sehen: Das Kapital braucht Wirtschaftswissenschaftler und Juristen, deswegen dürfen die ehemaligen ‹Geisteswissenschaften› marginalisiert werden. Ganz ehrlich: Wer braucht schon Kultur- und Lebenswissenschaftlerinnen, die den Leuten doch nur erklären, jede kulturell definierte Sichtweise auf die Welt sei in sich gleichwertig? Das kann in unserer deutschen ‹Leitkultur› ja schon mal gar nicht stimmen!

Und wer braucht dann auch noch lästige Kultur- und Lebenswissenschaftlerinnen, die Frauen erklären, ihre Geschlechtsidentität sei kulturell hergestellt und werde in unsäglichen TV-Shows permanent für die Mädchen weiter fest geklopft? Also wirklich!

Und wer braucht schon Philosophie? Wir haben doch die Philosophie des Marktes! Also brauchen wir keine Philosophen! Es sei denn – es sei was? Nun, es sei denn, da komme ein junger aufstrebender Philosoph daher, räume mal endlich mit dem ganzen Relativismus und Konstruktivismus auf und entwerfe einen ‹Neuen Realismus›! Ach, das wäre wunderbar! Denn schließlich verläuft der Kapitalismus nach objektiven Gesetzmäßigkeiten, da ist nichts relativ, er ist absolut, also auch absolut wahr. Wenn uns die ‹Philosophie› hier helfen könnte, so wie Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftsethik, ach, das wäre doch was. Ob dieser junge aufstrebende Philosoph konservativ gestimmt ist?


Das Zitat

«In der Philosophie mehren sich Stimmen, die wie der in Bonn unterrichtende M. G. eine Abkehr vom Anything goes der Postmoderne fordern. Sie bestreiten den allgemeinen Relativismus, der verschiedene Wahrheiten für gleichwertig erklärt und verweisen darauf, dass der Satz ‹Alles ist relativ› selbst absolut sei und damit ein Widerspruch in sich. Statt dessen plädieren sie für einen ‹Neuen Realismus›.» [3] Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung Nr. 230 vom 5./6.10. 2013, Seite V2/1.


Der Neue Realismus oder die Antwort der Reaktionäre

Na schön. Da hatten wir zunächst die ausdauernde Tradition des ‹Naiven Realismus› mit ihren Dogmen von der Wahrnehmbarkeit der Wirklichkeitswelt und vom Abbildcharakter der Sprache. Ein Naiver Realist hat es einfach, er glaubt, daß die ihn umgebende ‹Wirklichkeit› einfach da sei und daß er einfach nur seinen Kopf hinzuhalten brauche, dann werde sich die Wirklichkeit schon in seinem Gehirn abbilden. Und dazu kommt noch die Überzeugung, jedem Wort entspreche eine bestimmte Wirklichkeit. Nun ja. Einfach eben.

Die Unzufriedenheit der ‹Herren des Wörterbuchs› mit den Relativistinnen und Konstruktivistinnen, die sich einfach nicht zu einem ‹Naiven Realismus› bekehren lassen wollen, führte dazu, Unterrichtende an den ‹Universitäten› (von ‹Lehrenden› kann ja keine Rede mehr sein) dazu zu bewegen, etwas von einem ‹Externen Realismus› zu erzählen und somit eifrige Studierende davor zu bewahren, Relativistinnen Glauben zu schenken.

Und nun also der Neue Realismus. Können wir uns vorstellen, im ‹Naiven Realismus› oder im ‹Externen Realismus› Äußerungen zu hören, die uns an Michel de Montaigne erinnern? Nein, das können wir nicht. Denn im Naiven und Externen Realismus weiß man, was Wahrheit ist. Und da nun mal Konstruktivistinnen und Relativistinnen der Reaktion und den ‹Herren des Wörterbuchs› ein Dorn im Auge sind, bedarf es einfacher und böser Argumente, um sich deren Zumutungen vom Leibe zu halten. Das schauen wir uns an.

Zunächst einmal kreist die Reaktion sehr gerne und unentwegt um die Behauptung, Konstruktivistinnen und Relativistinnen würden die Existenz einer Welt da draußen bestreiten, sie seien also Solipsistinnen und die Welt da draussen sei für sie überhaupt nicht da. Das ist schon sehr lustig, weil es so falsch ist. Keine Konstruktivistin würde je behaupten, daß die geschlossene Tür, an der sie sich gerade den Kopf stößt, daß die Laterne, gegen die sie gerade läuft, eine gedankliche Konstruktion sei. [4] Wir erinnern uns gerne an die Vorlesung eines prominenten Professors für Psychologie, in der dieser sagte: «Konstruktivisten sitzen auf einem Bahngleis, da kommt ein Zug. Die Konstruktivisten sagen: Woher soll ich wissen, was da kommt? Und schon werden sie überfahren! Deswegen gibt es heute auch nicht mehr so viele von ihnen!» Ach, welch ein grenzenloser Jubel unter den Studierenden. Hatte doch der Professor elegant genau ihr intellektuelles Niveau getroffen.

Der ‹Soziale Konstruktivismus› ist kein ontologischer Solipsismus, wie ihm oft vorgeworfen wird, sondern ein epistemologischer Solipsismus. KonstruktivistInnen bestreiten nicht die Existenz einer von ihnen unabhängigen Außenwelt, sie bestreiten, daß die Welt da draussen ohne unser Zutun und ‹Hast-du-nicht-gesehen?› in unser Gehirn schlüpft. Und naturgemäß ist das ein Gedanke, der in den verwirtschaftlichten und verschulten Unterrichtsbemühungen an den spätmodernen Hochschulen (von ‹Lehre› kann ja keine Rede mehr sein) nicht gerne gedacht wird. Und also denunziert werden muß. Wozu Epistemologie, wo doch die Wirklichkeitshäppchen verzehrfertig vor uns liegen? Genau.

Aber es kommt noch besser: Die Reaktion behauptet gerne, Konstruktivistinnen und Relativistinnen hätten Angst vor der Wahrheit [5] Paul Boghossian (2013): Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus. Berlin: Suhrkamp Verlag.. Angst vor welcher Wahrheit? Und wenn wir uns die Beispiele in diesen Texten mal ansehen, womit da also als ‹Wahrheit› argumentiert wird, dann wird es schon wieder lustig. Angst vor der Wahrheit heißt dann zum Beispiel Angst vor der ‹wirklichen› Existenz des ‹Periodensystems der Elemente›. Oh je.

Doch weiter: Gelegentlich wird an den Hochschulen die infame Sinnlosigkeit des Konstruktivismus immer noch damit begründet, daß er einen ganz fürchterlichen Widerspruch in sich trage, denn er selbst, der Konstruktivismus, sei ja auch nur eine Konstruktion und gebe sich dennoch also Wahrheit aus. Das ist natürlich ganz dumm und böswillig. Denn gerade der Konstruktivismus betont pausenlos, er sei auch nur eine Konstruktion, er sei auch nur ein erkenntnistheoretisches Modell. Der Konstruktivismus setzt sich eben nicht absolut, er behauptet auch nicht, daß seine Sicht nun die einzig wahre wäre. Diese Anmaßung überlassen die Konstruktivisten den Realisten. Unterliegen die Realisten hier einer klassischen Projektion? Sieht so aus.

Zum Schluß noch ein ‹Argument›. Die Welt kommt für Realisten in zwei Werten daher, richtig oder falsch, schwarz oder weiß, etc. Das ist schon rührend. Doch die zweiwertige Logik ist für den Realismus von großer Wichtigkeit. Und sobald es um Logik geht, haben unsere Kulturinsassen einen großen Respekt, wie wir an dem oben bereits erwähnten Zitat sehen. Wir stellen es noch einmal hier ein:
«Sie verweisen darauf, dass der Satz ‹Alles ist relativ› selbst absolut sei und damit ein Widerspruch in sich.»
Sofort ist der ‹Gesunde Menschenverstand› beeindruckt, obwohl er nichts von dieser Logelei versteht, und von Cantors Mengenlehre schon mal gar nix. Aber diese Argumentation funktioniert. Immer. Es gibt nur zwei Probleme: Kein Konstruktivist würde jemals sagen, ‹Alles sei relativ›, und kein Konstruktivist würde, falls er diesen Satz denn je äußern würde, ihn für absolut gültig erklären. Wir haben das ganz ähnliche Argument wenige Zeilen weiter oben bereits beschrieben. Da hieß es, der Konstruktivismus sei ja auch nur eine Konstruktion und gebe sich dennoch also Wahrheit aus. Tja, eben nicht. Das ist natürlich auch hier ganz dumm und böswillig. Aber Sinn und Zweck dieser dummen und böswilligen Argumentationen liegen auf der Hand.


Finale

Im naiven, externen, neuen Realismus geht es um Gewißheit. Es geht darum, daß wir alle, sofern wir nicht ideologisch verrannt sind, die Dinge an sich erkennen und beschreiben können, wie sie wirklich sind, daß wir die Dinge an sich objektiv und gewiß in ihrem Kern erfassen und nicht interpretieren, kurz, daß wir die Welt entschlüsseln können. Damit dann auch endlich klar ist, daß die Wirtschaftswissenschaften in ihrer mathematischen Strenge keine Ideologie, ja nicht einmal ein Theoriegebäude darstellen, sondern schlicht nur die Wirklichkeit abbilden und bei der Optimierung derselben helfen.

Und wie wunderbar es sich nun für die ‹Herren des Wörterbuchs› ergibt, daß da ein junger, aufstrebender Philosoph (Ein echter Philosoph! Kein Master of Business Administration!) dem derzeitig verbreiteten ‹Realismus› der Spätmoderne zur Seite springt und im Schulterschluß mit dem Kapital versucht, vom ‹Naiven Realismus› abweichende Irrlehren zu denunzieren und zu beschimpfen. So ein Glücksfall! Und wie preiswürdig! Und natürlich darf dieser junge und aufstrebende Philosoph deswegen auch kleine Artikel in der Zeitung veröffentlichen, die von den Leuten gelesen wird, denen die Bundesrepublik gehört!

Lieber Leser, liebe Leserin, Sie sollten jetzt noch einmal das diesem Traktat voraus gehende Motto lesen. Ok?

Finis.



Ins Netz gestellt am 10. November 2013
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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