BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kleine psychologische Skizzen zu Scham, Schuld und Gewissen (3): Schuld» von Lisa Blausonne & Henriette Orheim
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1. Einführung

Lieber Leser, liebe Leserin, in der ‹Einführung› zu dieser Reihe von Skizzen haben wir einige Alltagssituationen geschildert, in denen Mitmenschen ein Verhalten zeigen, das wir mit Worten wie Unzuverlässigkeit, Unachtsamkeit, Unangemessenheit und Unverbindlichkeit etikettieren würden. Diese Verhaltensweisen selbst - wie auch unsere Attribuierungen auf Worte, die mit einem ‹Un...› beginnen - sind nicht das, was uns in diesen Skizzen interessiert. Uns geht es um die Frage, ob und inwieweit sich in den Handelnden in den verschiedensten indizierten Situationen des Alltags so etwas wie ein Gefühl von Scham oder Schuld einstellen mag, nachdem sie anderen - in deren Augen - eine Belästigung, eine Unbequemlichkeit, einen Schaden zugefügt haben.

Im zweiten Teil dieser Reihe haben wir daraufhin die Repräsentation des Begriffs ‹Scham› untersucht und ‹alte› und ‹neue› Räume des Schämens aufgemacht und beschrieben. Und wir haben gesagt, daß viele Leute (40%, 50%, 60%?) heute den Regeln der ‹Ego-Präsentation› und der ‹Logik des Marktes› mit einer solchen Konsequenz folgen, daß hier ein Gefühl von ‹Scham› im alten Sinn nicht erwachsen kann. Statt dessen werden die postmodernen ‹Übermenschen› - so vermuten wir - ein ‹neues› Schamgefühl in all den Kontexten empfinden, in denen sie - ganz persönlich jetzt - sich nicht ihren Vorteil nahmen, in denen sie sich nicht durchsetzten.

In diesem dritten Teil nun spüren wir dem Begriff der ‹Schuld› nach. Dieses Unterfangen ist noch schwieriger als die Annäherung an den Begriff der ‹Scham›. Denn Schulddiskurse gibt es heute eigentlich nur noch im Reden über die Taten anderer Menschen. Denn nur Beobachter und Beobachterinnen sehen da draußen in ihrer kleinen Welt überall Menschen, die für ihre Taten verantwortlich zu sein scheinen. Und Beobachter und Beobachterinnen erwarten von diesen ‹Tätern›, daß sie ‹ihrer Verantwortung gerecht werden›, das heißt also, die Verantwortung für etwas Geschehens - und damit eine ‹Schuld› - auf sich nehmen, Konsequenzen ziehen, ‹zurücktreten› und ähnliches. Beobachter attribuieren mit dem Blick auf Andere also ‹internal›, sie verlagern die Ursache irgendeines Geschehens in die handelnde Person selbst. (Vgl. dazu Albertine Devilders und Henriette Orheims Reihe von Essays zu einer «Psychologie des Urteilens», in der die verschiedenen Attributionsmuster anschaulich erläutert werden.) Nur nebenbei: Das ist unser aller Attributions-Hauptgeschäft im Alltag, und Politikakteure und Schmierlappenzeitungsjournalisten leben von diesem Attributionsstil.

Handelnde aber, die sich mit Vorwürfen auseinanderzusetzen haben wie die junge Frau, die sich in der Straßenbahn direkt vor unserem eigenen Gesicht mit einer duftenden Dönertasche plaziert und in Ruhe ißt, oder die vielen vielen ‹Angeklagten›, die sich ‹im Namen des Volkes› vor einem Richter verantworten müssen, Handelnde also werden in aller Regel (zu 80%, 90%, 95%?) external attribuieren, sie werden die Ursache, die Gründe für ihr Verhalten irgendwo da draußen in der Welt suchen und finden, nur nicht bei sich. Das macht es so schwierig, über ‹Schuld› zu sprechen. Denn die Diskurse über externale Attributionen, über Ent-Schuldigungen des eigenen Verhaltens also, laufen wie geschmiert, beinahe automatisch. Schuld? Dieses Wort ist nicht aus dem Sprachschatz des postmodernen ‹Übermenschen› verschwunden, es spielt nur vermutlich für die Nachbetrachtung des eigenen Verhaltens keine Rolle mehr. Wie kann das sein?


2. Was ist Schuld?

Beginnen wir - wie immer- mit einer Beschreibung dessen, was in unserer Kultur unter dem Begriff ‹Schuld› verstanden wird. Nun, herkömmliche Definitionen sprechen von einer ‹Schuld›, wenn jemand die Ursache von etwas Unangenehmem oder Bösem zu sein scheint. Dann läßt sich sagen, daß jemand für dies oder das verantwortlich sei und die Schuld dafür trage. Genau wie bei der Beantwortung der Frage ‹Was ist Scham?› zeigt sich auf den ersten Blick, daß ein Reden über ‹Schuld› nur möglich ist, wenn es einen Bezug zu tatsächlichen oder imaginierten sozialen Kontexten gibt. Eine Person, die sich schuldig fühlt, eine Person, die also einem - unter Umständen nur diffusen - Eindruck unterliegt, etwas falsch gemacht zu haben, muß die Normen, Werte und Erwartungen eines sozialen Kontextes kennen, gegen die sie mit einem bestimmten Verhalten, einer Tat, verstoßen zu haben glaubt. Es muß eine subjektive Überzeugung vorhanden sein, einer Person Unrecht getan, ein Ding beschädigt oder gegen ein Gesetz oder Gebot verstoßen zu haben. Und ein Schuldgefühl läßt sich dann leicht beschreiben als eine negativ bewertete Aktivierung, die aus dem Eindruck entsteht, sich nicht so verhalten, nicht so gehandelt zu haben, wie es gut, angemessen oder richtig gewesen wäre.

Wenn wir uns auf die christlichen Religionen und antike Dramen besinnen, stellen wir ohne Anstrengung und eigentlich ziemlich überrascht fest, welche überwältigende Bedeutung die Worte ‹Schuld›, ‹Sünde› und ‹Sühne› über Jahrtausende hinweg hatten und haben. Und da es seit so langer Zeit literarische und dramatisierte Berichte über Verstrickungen in Schuld und Sühne gibt, können wir vermutlich zu Recht annehmen, daß das ‹Schuldigwerden› und das ‹von einer Schuld wieder befreit werden›, das ‹Sühnen› also, eine Art Urerfahrung des Menschen in seinen sozialen Räumen darstellt, wenn wir unter einem ‹Schuldigwerden› die Übertretung eines im Rahmen eines allgemeinen Normenkodex vorgegebenen - beziehungsweise auf Gott oder die Götter zurückgeführten Gesetzes oder Gebots - verstehen wollen oder aber das Bewusstsein, einer im biographischen Gewordensein erworbenen oder erkannten sittlichen oder religiösen Pflicht zuwidergehandelt zu haben.

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf das Strafrecht: Hier ist das vom Gericht festgestellte ‹Vorliegen› einer ‹Schuld› die Voraussetzung für die Bestrafung und die Grundlage für die Zumessung der Strafe. Und von einer ‹Schuld› kann nur die Rede sein, wenn ein Gericht einem ‹Täter› eine Willensbildung, einen Vorsatz vorwerfen kann. Oder anders: Von einer ‹Schuld› im strafrechtlichen Sinne wird nur dann gesprochen, wenn ein ‹Täter› bei einer konkreten inkriminierten ‹Tat› sich willentlich auch anders hätte entscheiden können. Natürlich wird von einer ‹Schuld› auch bei einer Fahrlässigkeit gesprochen, nur wird die ‹Schuld› dann eben geringer gewichtet.


3. Räume der Schuld

Wir haben in unserer Skizze zur ‹Scham› und weiter oben in diesem Traktätchen schon darauf verwiesen, daß, um sich schuldig fühlen, um eine Schuld auf sich nehmen zu können, in sozialen Räumen Maßstäbe entwickelt worden sein müssen, an denen man sein eigenes und das Verhalten anderer Leute prüft und vergleicht. Ob jemand in einer bestimmten Situation, in einem bestimmten sozialen Raum, während eines bestimmten Zustandes der Pólis, an einem bestimmten Punkt der großen Zeitläufte ein Gefühl der ‹Schuld› entwickelt, hängt also von zurückliegenden sozialen Konstruktionsprozessen in der Onto- und Soziogenese ab: Wir müssen in konkreten sozialen Kontexten erst einmal lernen, uns schuldig zu fühlen. Das Biographische als soziales Gewordensein entscheidet also darüber, in welchen Kontexten und zu welchen Anlässen man sich schuldig fühlt - oder eben nicht. Es gibt Referenzmodelle, Vorbilder. Für ein ‹Sich-schuldig-fühlen› und für ein ‹Sich-nicht-schuldig-fühlen›. Immer. Und damit sind wir bei einer zentralen These: In einer Gesellschaft des Spektakels werden die Vorbilder für ein ‹Sich-nicht-schuldig-fühlen› wesentlich zahlreicher sein, als für ein ‹Sich-schuldig-fühlen›. Oder anders: Räume der Schuld werden bei der Betrachtung und Bewertung des Verhaltens anderer Leute schnell und ohne Bedenken aufgemacht, während Räume der Schuld, die das eigene Tun betreffen, kaum auszumachen sind. Ja, sie sind fast verschwunden.

Schauen wir zur Prüfung dieser These im folgenden auf kleine, soziale Kontexte, auf biotische Prototypen, auf lokale Räume der Schuld, die wir untersucht und in denen wir Diskurse über Schuld und Schuldeinsicht initiiert haben. Noch einmal und nur zur Erinnerung: Bei unseren Beobachtungen war nicht das beobachtete Verhalten an sich interessant, sondern die Frage, wie dieses Verhalten sich im Handelnden psychologisch repräsentiert und eventuell in der Richtung eines Schuldgefühls abbildet. Wir haben eine Fülle von weiteren Situationen untersucht und diagnostiziert. In fast allen Fällen haben die Handelnden die Ursachen ihres inkriminierten Tuns external attribuiert und alles mögliche aus dem Kontext, den besonderen Umständen und der Spezifität der Situation herangezogen, um ihr Tun zu ‹entschuldigen›. Wie kann das sein, daß sich kaum jemand schuldig fühlt, ziemlich unabhängig davon, um was es geht? Gibt es in der derzeitigen Gesellschaft des Spektakels überhaupt noch ein Empfinden für ein eigenes Verschulden, ein Schuldgefühl?


4. Die Postmoderne als ‹Epoche der Schuldlosigkeit›?

In unserem Essay zur ‹Scham› haben wir zu zeigen versucht, wie postmoderne Menschen in ihrem Hineingeworfensein in eine Gesellschaft des Spektakels sich immer noch zunehmend von drei Mächten, ja drei Lebensnotwendigkeiten befreien oder schon vollständig befreit haben - von der Religion, der Pólis und der Natur. [3] Vgl. dazu Victor Hugos Les Travailleurs de la mer. Die Ausgabe, auf die wir uns beziehen: Victor Hugo (2003): Die Arbeiter des Meeres. Aus dem Französischen übertragen und herausgegeben von Rainer G. Schmidt. Hamburg, Li-Hou, Butjadingen: Achilla Presse. Und wir haben beschrieben, wie sich die derzeitigen Kulturinsassen fast vollständig und immer fraglos einer neuen Macht unterwerfen, dem ‹Markt›. Dazu kommt noch die in einer Gesellschaft des Spektakels überaus bedeutsame ‹schlimmste Lichtquelle der Welt›, die dazu verhalf, bei sehr vielen Gesellschaftsangehörigen eine Art ‹Medienidentität› herauszubilden, die wir in unserem Traktätchen über die ‹Scham› näher beschrieben haben. Dies alles zusammengenommen, die Abwendung von drei alten Mächten, die Hinwendung zu einer neuen Macht und die relativ neue Art des ‹persönlichen In-der-Welt-seins›, haben uns dazu bewegt, den postmodernen Zeitgeistträgern das Etikett des ‹Übermenschen› aufzukleben. Hier einige kurze Zitate aus unserem ‹Scham›-Traktat, auf daß wir im Duktus fortschreiten können:

«Der [...] Diskurs über die Medienidentität hat zu zeigen versucht, wie heute viele Menschen mit einer Grandiosität ihres vermeintlichen ‹Ichs› daherkommen, welches ein Eingehen auf Rechte und Regeln von Religion, Pólis und Natur obsolet erscheinen läßt. Diese vielen ‹gnadenlosen› ‹Ich›-Unternehmer [...] zeichnen sich durch zweierlei aus: Sie folgen zum einen der Logik des ‹Marktes› (Vorteilsnahme statt Anteilnahme [...]) und zum anderen den Gesetzen der Ego-Präsentation. [...] Der ‹Markt› verlangt heute Menschen, die sich jederzeit neuen ‹Herausforderungen› stellen, und die gelernt haben, sich am Markt Vorteile zu verschaffen und sich durchzusetzen. Andere Menschen erscheinen da als Konkurrenten, die ebenfalls darauf aus sind, sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Da heißt es auf der Hut zu sein. [...] Viele vermeintliche ‹Ichs› kommen heute [...] als ‹Übermensch› (daher). Diese ‹Übermenschen› akzeptieren - für sich ganz persönlich jetzt - keine Grenzen und Tabus, keine Gesetze und Regeln der Pólis. [...] Der postmoderne ‹Übermensch› ist ein abgeschlossenes System, das beinahe unbeeinflußbar ist und das keine bewertenden Emotionen für Ereignisse zeigt, die nicht um das eigene ‹Ich› kreisen.»

Liebe Leserinnen und Leser, können wir von ‹Übermenschen› Schuldgefühle erwarten oder zumindest eine Einsicht in ein schuldbehaftetes Handeln? Die Antwort fällt leicht, aber die psychologische Begründung dieser Antwort ist komplexer. Blicken wir zur Einstimmung beinahe 200 Jahre zurück: In den 30er Jahren des vorvorigen Jahrhunderts erlebte Bremen den Giftmordprozeß der 47-jährigen Gesche Margarethe Gottfried [4] Diese Geschichte entnehmen wir dem Buch von M. Jacta (2001): Berühmte Strafprozesse. Spektakuläre Fälle der internationalen Kriminalgeschichte. München: Orbis., die mindestens 15 Personen mit Arsenik vergiftete. Darunter die meisten ihrer Angehörigen - ihren ersten und zweiten Ehemann, ihre Eltern, ihre Kinder und ihren Bruder. 1828 wurde sie verhaftet und anschließend öffentlich hingerichtet. In der Abhandlung «Über den Charakter der Gottfried» schrieb der Berliner Strafrechtslehrer Carl Ernst Jarcke [5] Vgl. dazu die Hefte 21 und 22 von ‹Hitzigs Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechts-Pflege›. Berlin, 1831., nicht durch Habgier seien ihre Untaten zu erklären, sondern durch «Haltlosigkeit und menschliche Schwäche». Ihr habe - erklärbar aus der «allgemeinen Irreligiosität ihrer Umgebung und Zeit» - jeder tiefere religiös-sittliche Halt gefehlt, und so sei sie von einem Verbrechen zum anderen geführt worden. Das Fehlen jedes Widerstandes gegen verbrecherisches Tun verwerflichster Art bei dieser Frau sei «ein merkwürdiges Phänomen». Dies begreife sich aber aus ihrer sittlichen Verworfenheit, und dies wiederum sei ein «Produkt jenes milden und glatten Indifferentismus gegen das Gute wie gegen das Böse, der heutzutage auslösend durch alle menschlichen Verhältnisse und so viele einzelne Gemüter geht und in seinem Resultate mit der fühllosesten Rohheit völlig zusammentrifft.»

Liebe Leserinnen und Leser, im 3. Kapitel über ‹Räume der Schuld› haben wir einige Alltagssituationen geschildert, in denen in diese verstrickte Zeitgenossen nicht auf die Idee kamen, ihr eigenes Verhalten mit dem Begriff der ‹Schuld› in Verbindung zu bringen. Dies mitzuerleben ist oft ernüchternd. Ratlos allerdings blicken wir heute auf die Szenen, in denen wir große oder kleine, junge oder alte, reiche oder arme, ‹hoch-stehende› oder ‹niedrig-stehende› Menschen wegen ‹kleinerer› oder ‹größerer› ‹Vergehen› vor Gericht stehen sehen und im weiteren verfolgen, wie sie sich ‹verteidigen›, das heißt, Kurz, wenn wir heute sehen, wie sich Zeitgenossen ganz allgemein im Alltag Fragen der ‹Schuld› entziehen und ganz speziell vor Gericht ‹verteidigen› und welche Unterstützung sie dabei von ihren Anwälten [6] Selbst mittelmäßige Anwälte in mittelmäßigen Rechtssachen überziehen heute ein Gericht mit Befangenheits- und Beweisanträgen aller Art, mit dem einen Ziel, die mögliche ‹Schuld› ihres Klienten zu verwedeln. Dazu paßt auch, daß kaum mehr Urteile im Namen des Volkes akzeptiert oder zumindest hingenommen werden. Selbst der kleinste Krauter geht heute in die Berufung und wird, wenn es um seine ‹Schuld› geht, zum uneinsichtigen Querulanten. erfahren, dann liegen auch uns die Worte ‹moralischer Indifferentismus›, ‹Haltlosigkeit› und ‹allgemeine Irreligiosität› auf der Zunge. Selbst wenn sich jemand ‹schuldig› bekennt, dann ist da entweder noch eine gewisse Unwilligkeit, eine Geste des Ungerechtfertigt-etwas-auf-sich Nehmens zu spüren, oder aber eine Klügelei zu sehen, aus der heraus man sich ein bestimmtes günstiges Urteil erhofft. Und jenseits der Gerichtssäle, im Alltag, in den tausend täglichen Interaktionen im sozialen Raum, gibt es da ein Schuldempfinden? Sich schuldig zu bekennen, zu einer Schuld zu stehen und diese auf sich zu nehmen, in wievielen Fällen gibt es das noch? In einem von hundert? Könnte sein. Die Postmoderne als Epoche der Schuldlosigkeit? Könnte sein. Versuchen wir uns dieser Epoche der Schuldlosigkeit zu nähern. Zwei Gedanken:


4.1 Über das Vulgäre

Einen wesentlichen Anteil am mundanen Phänomen vorgeführter Schuldlosigkeiten hat in unseren Augen die stetig zunehmende Vulgarität und Pöbelhaftigkeit des öffentlichen und privaten Lebens. Die Bochumer Arbeitsgruppe hat dies in ihrem Arbeitspapier Nr. 14 anschaulich beschrieben und von einem postmodernen «Proletentum» gesprochen: «Zunächst müssen wir noch eine Bemerkung zum Begriff des ‹Proleten› machen. Schon allein durch unsere Verwendung dieses Wortes machen wir zum einen deutlich, daß wir weiterhin an die gesellschaftliche Segregation in Klassen glauben und an die mit diesen Klassen korrelierenden «feinen Unterschiede» in den Lebensformen. Zum anderen aber sehen wir heute, daß es kaum mehr Proletarier gibt, also Angehörige einer wirtschaftlich abhängigen und besitzlosen Klasse, die ein Bewußtsein von ihrer ‹Lage› und ihrem Status haben, sondern statt dessen fast nur noch Proleten, also ungebildete, erregte Menschen, die nichts über ihren Status, ihren gesellschaftlichen Ort, wissen und wissen ‹wollen›. Und zum dritten glauben wir, daß das Proletentum sich über die ehemalige Arbeiterklasse hinaus längst bis weit nach oben in die mittlere bis höhere Mittelschicht ausgebreitet hat, was Dummheit, Unbildung, Aberglauben, Anomie und Gier betrifft.» [7] Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung, Arbeitspapier Nr. 14: «Was von der Postmoderne übrig blieb - Zeitgemäße Betrachtungen». 1. Fassung, August 2003. PDF-Version, Seite 40.

Das Vulgäre und Pöbelhafte wird heute in drei Bereichen gefeiert, in der Proletisierung der Ästhetik, der Tiefpreis- und Schnäppchen-Kultur und in der Förderung von Erregungs-Exaggerationen. In diesen staatlich geförderten Sektoren ist das Vulgäre - das Gewöhnliche, das Gemeine, das Niedrige - zu Hause. Und Politiker, die vom Pöbel gewählt werden wollen, wählen die Sprache des Pöbels, um gewählt zu werden. Wer sich einmal Wahlreden angehört hat, weiß, was wir meinen.

Vulgarität ist also keineswegs ein Klassenmerkmal, statt dessen ist es zu einem Hauptkennzeichen der postmodernen Kultur geworden. Vulgarität wird gepflegt im öffentlichen Diskurs, in politischen Reden, in der Schmierlappenpresse, in der «schlimmsten Lichtquelle der Welt» und sogar auf der Theaterbühne. Und eine Variante des vulgären Tuns ist heute ganz besonders beliebt: «Vulgär ist die Freude am Denunzieren und Bloßstellen. Der Bloßgestellte ist wehrlos und seiner Waffen beraubt. Am Anblick eines schutzlos der allgemeinen Verachtung Preisgegebenen kann sich nur der Vulgäre erbauen.» [8] Asfa-Wossen Asserate (2003): Manieren. Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Band 226. Seite 135.Stellen wir uns nur kurz vor, mit welcher Gier sich vulgäre Journalisten auf Politiker oder Trainer stürzen, die kurz vor einer Entlassung stehen. Lassen wir diese Bilder für einen Augenblick ganz intensiv in unserer Vorstellung stehen. Und dann überlegen wir uns noch einen Moment, wieviele Formate im TV konstruiert werden mit dem alleinigen Ziel der Bloßstellung oder Zurückweisung von Zeitgenossen. Alles klar?

Die andauernde Gewöhnung an vulgäre und schändliche Diskurse und Bilder führt zu vulgärem und schändlichen Verhalten - und verhindert letztlich, sich Fragen der Schuld bezüglich des eigenen Tuns zu nähern. Noch einmal folgen wir hier sehr gerne Asfa-Wossen Asserate: «Der Gipfel der Vulgarität wird nicht schon beim Aussprechen von der eigenen Überzeugung nicht entsprechenden Argumenten betreten, sondern beim Ausbleiben jener Schande und jenes Elends in der darauffolgenden einsamen Nacht, wenn es also gelungen ist, das Gewissen endgültig zum Schweigen zu bringen. Und so meine ich fortfahren zu können, daß eine wichtige Voraussetzung der Vulgarität die Unfähigkeit ist, sich schuldig zu fühlen.» [9] Asfa-Wossen Asserate (2003), a.a.O. Seite 133f.

Sich völlig unschuldig fühlen zu können! Wer denkt hier nicht sogleich an einen früheren Kanzler, der das Vorbild für alle Sich-schuldlos-fühlenden und sofort zum Gegenangriff übergehenden Zeitgenossen ist und war. Als massige Fleischwerdung ist er für alle Zeiten die vollendete Verkörperung des Unschuldigen selbst und zugleich - was Dummheit, Unbildung, Aberglauben, Anomie und Gier betrifft - die Inkarnation der Vulgarität.

Ganz kurz: Fragen der eigenen persönlichen Schuld auszuweichen - ist vulgär. Damit haben wir ein wesentliches Bestimmungsstück der gegenwärtigen Epoche der ‹Schuldlosigkeit› ausgemacht.


4.2 Das ‹Ich› als Berechtigung

Die mundane Vulgarität geht in diesem gerade beginnenden neuen Jahrtausend einher mit einer maßlosen Überbetonung des eigenen ‹Ichs›: «So viel ‹Ich› war nie». Im Skepsis-Reservat der Bochumer Arbeitsgruppe ist diese sich seit den 70er Jahren immer weiter verstärkende Entwicklung schon in verschiedenen Traktätchen beschrieben worden. In einer ‹Gesellschaft des Spektakels› macht es Sinn, den Menschen zu erzählen, sie seien völlig unabhängig von sozialen Kollektiven oder demographischen Segregationen. Und aus dieser Behauptung heraus, daß Sozialschichten, daß soziale Klüfte mit dem Fall des Sozialismus endgültig aufgelöst seien, entwickelt sich eine überaus mangelhafte Bescheidenheit und damit die Unverschämtheit, zu glauben, sich mit seinem ‹Ich› alles leisten, alles herausnehmen zu können. Tja, und das Ergebnis dieser Entwicklung ist täglich in tausenden von ad-hoc-Interaktionen zu besichtigen: Heute hat jeder Mensch ein ‹Ich›, ist jeder Chef seiner ‹Ich›-AG, hat jeder die Berechtigung und die Verpflichtung, sein ‹Ich› über alle anderen ‹Ichs› zu stellen und gleichzeitig Ansprüche an alle anderen ‹Ichs› zu erheben. Die ‹Gesellschaft des Spektakels› gibt im finalen Kapitalismus jedem ‹Ich› eine Berechtigung, einen Passierschein gleichsam, sich Ich-haft zu gebärden: Es sind halt ‹Übermenschen›.

Eine wichtige Komponente bei der gesellschaftlichen Konstruktion von ‹Übermenschen› ist die weit verbreitete Ahistorizität. Die Geschichte einer Gesellschaft und insbesondere die Geschichte eines Einzelnen bieten heute keinen Halt mehr, oder anders: Die Geschichte verwahrt heute den Einzelnen nicht, sie bildet keine stützende Klammer mehr. Die Ontogenese bietet für die meisten Kulturinsassen keine Folgerichtigkeit, sondern Brüche, Zufälle, Vergewaltigungen.

Dazu kommt bei sehr vielen jungen und mittelalten Leuten mit einer ‹Medienidentität› ein nicht nur von der berühmten PISA-Studie aufgedeckter ‹Abschied vom Wissen und Können›: Sehr viele Leute begreifen heute weder, daß sie nur wenig können oder wissen, noch, daß es sinnvoll sein könnte, entgegen aller schlechter Chancen in einer Merkatokratie dennoch etwas zu lernen. Statt dessen entnehmen sie dem TV die freudige Botschaft, daß das Leben ein Lotteriespiel sei und daß jeder irgendwann die Chance habe, ohne Talent, ohne irgendwelche persönlichen ‹assets› den großen Erfolg feiern zu dürfen (siehe die vielen Anmeldungen zu irgendwelchen Castings).

Wir haben es schon in unserem Traktat über die ‹Scham› angesprochen, daß Soziobiologie und Biotechnologie hervorragend zum Zeitalter der Postmoderne passen, eigentlich erst in diesem ganz denkbar sind. Also argumentieren wir doch mal zeitgemäß: Wenn heute so viele junge Leute ‹nichts› wissen, ‹nichts› können, nicht ‹vermittelbar› sind und sich darüber hinaus auch nicht anstrengen möchten, zeigt das aus soziobiologischer Sicht doch nur, daß eine instruktive Sozialisationseinwirkung von bemühten Sozialisationsagenten überflüssig ist. Entweder man hat es in den Genen, oder man hat es nicht. Können wir da nicht auf die mühselige Schulbildung verzichten? Und für das einzelne ‹Ich› heißt es: Arbeit an sich selbst? Selbsterziehung? Puh! Ich nutz den Vorteil meiner Gene, oder, wenn meine Gene eben ‹schlecht› sind, hat doch alles keinen Zweck, dann brauche ich mich erst recht nicht zu bemühen.

Und damit sind wir auch bei ‹Scham› und ‹Schuld›: Können sich ‹egoistische› Gene schämen? Können Gene schuldig werden? Eben, es ist ‹Natur›, und mit diesem Fehlschluß lösen sich ethische Diskurse aus Jahrhunderten von Jahren in einem ‹Blubb› auf. Denn Gene sind immer schuldlos. Wenn ich bin, der ich bin, bin ich ich, und im eigenen Reich und eigenen Recht meines Ichs geborgen. Dazu kommt noch eine neue bizarre Volte der ‹Hirnforschung›, an der, wie immer, Gerhard Roth beteiligt ist: Die aktuellste Idee ist, daß Menschen keine Verantwortung tragen für das was sie tun, denn ihr Gehirn ist es, welches sie tun läßt, was sie tun. Der Mensch hat also gar keinen freien Willen, er ist Opfer seiner Hirnschaltungen! Paßt das nicht wunderbar zu den Diskursen der Schuldlosigkeit? Wird bald das Strafrecht umgeschrieben werden müssen? Das wird spannend!

Im Arbeitspapier Nr. 14 der Bochumer Arbeitsgruppe heißt es: «Das ‹Ich›, das kleine krumpelige Selbst, scheint heute die einzige Konstante zu sein, an die ein medienbewegter Kulturinsasse noch glauben kann. Und die Konsistenz des Subjekts speist sich gerade aus dem Verhältnis zur beschleunigten Umwelt. Denn im Abgleich mit der Veränderungsgeschwindigkeit der Umgebung atmet man auf, wenn das ‹Ich› als gleich bleibende, lauwarme Instanz erkannt wird. Das ‹Ich› wird heute ganz ohne Selbstironie verteidigt und mit Waren ausgeschmückt. Der moderne Glaube an die Einzigartigkeit eines ‹Ich-Kerns› wird heute auch noch unterfüttert durch sinnlose Verlautbarungen aus dem Genom-Projekt. ‹Ich› bleibt ‹Ich›. Das heißt aber: Das ‹Ich› als vermeintliche Institution bleibt in der Postmoderne unbehelligt, denn es wird noch gebraucht.» [10] Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung, Arbeitspapier Nr. 14: «Was von der Postmoderne übrig blieb - Zeitgemäße Betrachtungen». 1. Fassung, August 2003. PDF-Version Seite 23.

Wozu wird es gebraucht? Nun, es soll kaufen, sich mit Waren behängen. Denn das ‹Ich› ist heute eine Berechtigung, sich zum einen selbst als Anbieter am Markt ‹positionieren›, und zum anderen, am Markt als Endverbraucher teilnehmen zu dürfen. Das ‹Ich› ist heute kein romantisches Versprechen mehr, welches man einzulösen versucht, es ist auch keine Verheißung, die man anmutig und demütig mit Leben zu füllen sich bemüht.


5. Postmoderne Übermenschen: Verwahrlos, Haltlos, Schuldlos?

Kommen wir zum Schluß: Postmoderne Übermenschen meinen sich zu haben, sich zu besitzen. Deswegen akzeptieren sie keine albernen sozialen Klammern, keine lebensnotwendigen Mächte wie Religion, Pólis und Natur. Sie erheben sich - und verbleiben bei einem zyklopisch-solipsistischen Blick auf sich selbst und das, was sie für ihre eigenen Bedürfnisse halten. Und von Asfa-Wossen Asserate lernen wir, daß die alleinige Hinwendung zum eigenen ‹Ich›, daß das gnadenlose Bestehen auf der Fiktion des eigenen ‹Ichs› - vulgär ist. Denn ‹Bei-sich-sein› heißt übersetzt: Kein Einfühlen, Mitfühlen, Mitleiden. Wie soll da ein Gefühl von Scham ein Bewußtsein von Schuld entstehen? In unserem Traktat zur ‹Scham› schrieben wir: «Ein ‹Ich› kann die Perspektive eines anderen Menschen nur dann übernehmen, wenn es da draußen, außerhalb des eigenen grandiosen ‹Ich-Kosmos'›, überhaupt noch etwas sieht und in eigene Empfindungen übersetzt. [...] Wenn das ‹Ich› selbst sein ganzer Wert ist, in wen oder was soll es sich dann noch einfühlen?»

Postmoderne Gesellschaftsinsassen und Zeitgeistsurfer akzeptieren keine ‹geistige› Haltung, keine Philosophie, keine Nachdenklichkeit, keine ‹echten› Lehrer, keine Hierarchien, keine Gesetze, keine Regeln: «Jeder muß selbst am besten wissen, was er tut und was er nicht tut. Punkt.» Das ist die Philosophie der Postmoderne, das ist der Satz, in den alle Diskurse über Scham und Schuld münden. Nur nebenbei: Interessanterweise verstoßen dennoch sehr viele Leute gegen diese All-Regel und übernehmen nicht einmal die Verantwortung für sich selbst - für Geschehnisse außerhalb ihres Ego-Kosmos sowieso nicht. Wie soll jemand, der schließlich «selbst am besten wissen muß, was er tut und was er nicht tut» mit jemandem umgehen, der wiederum «selbst am besten wissen muß, was er tut und was er nicht tut», und wie sollen sich dabei Diskurse über ein ‹Sich-Schämen›, ein ‹Etwas-Bereuen›, ein ‹Eine-Schuld-Eingestehen› entwickeln? Gute Frage. Antworten darauf zeigen sich täglich in den vielen kleinen sozialen Situationen, auf die es im Zusammenleben mit Menschen ankommt. Die sozialen Räume der Schuld sind - beim Blick auf sich selbst - eng geworden. Was sagten wir in unserem Traktat zur ‹Scham›: «Das in den Zeiten des Humanismus und der Aufklärung begonnene und auf die ‹Vernunft› der Menschen hoffende Projekt der Säkularisierung ist [...] mit dem Beginn des zweiten Jahrtausends abgeschlossen. [...] Die alten Mächte haben ausgespielt. [...] Das [...] Projekt ‹Aufklärung› ist damit beendet. Jeder bedient sich heute seines eigenen Verstandes.»

Jeder bedient sich heute seines eigenen Verstandes? Tja, das wäre was. Was sagt Nicolas Chamfort dazu: «Die meisten Menschen leben in der Welt, in der sie leben, so unüberlegt, sie denken so wenig, daß sie die Welt, die sie immer vor sich haben, gar nicht kennen.» [11] Nicolas Chamfort (1987): Ein Wald voller Diebe- Maximen, Charaktere, Anekdoten. Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Band 31. Verlegt bei Franz Greno, Nördlingen. Seite 22. Nun ja, dafür kennen sie sich aber schließlich selbst, denn wie sollten sie sonst jeweils «selbst am besten wissen, was sie tun und was sie nicht tun?» Ach, wir werden zynisch.

Die riesigen Berge sozialer Konventionen sind abgetragen. [12] Das hat ganz zweifellos auch erfreuliche Züge. Aber leider kommt der postmoderne ‹Übermensch› nicht auf die Idee, sich eigene ‹geistige› Referenzpunkte zu schaffen. Menschen in der Postmoderne sind nun endlich ohne Verwahr, sie sind verwahrlos, auf sich selbst zurückgeworfen, ohne Stütze. Den einzigen Halt gibt ihnen - welche Überraschung - die Gesellschaft des Spektakels, in der täglich mit Hilfe der ‹schlimmsten Lichtquelle der Welt› neue Spektakel der Scham- und Schuldlosigkeit angekündigt oder aufgeführt werden. Das Spektakel selbst bietet aber kein Verwahr, kein Asyl, keine Zuflucht, keine Heimat. Denn das Spektakel und die ‹schlimmste Lichtquelle der Welt› lassen die postmodernen ‹Übermenschen› Abend für Abend ohne jede Sinnstiftung und mit einem schalen Geschmack im Munde zurück, fiebernd auf das, was am nächsten Tag als Wichtigkeit angeboten werden wird. Und ohne jedes Schuldgefühl daran dann teilhaben zu wollen, damit beginnt es.



Erstellt: 21. Mai 2004 - letzte Überarbeitung: 21. Mai 2004
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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