BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«‹Sozialer Konstruktivismus› und die ‹Philosophie des Als ob›»
von Artus P. Feldmann
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Einführung

Ich weiß, ich weiß, lieber Leser und liebe Leserin, ‹Konstruktivismus› interessiert heute niemanden mehr. Epistemologische ‹Klügeleien›, wissenschaftstheoretische ‹Hinterfragungen› und punktgenaue ‹Wirklichkeitsprüfungen› im ‹sozialen Raum› sind out, ganz out. Derzeit ist der Begriff der Erkenntnis und dessen, was wir unter ‹Informationen› verstehen sollen, naturalistisch geprägt - und der ganze Rest ökonomistisch. Wobei alle Welt, nicht nur ‹Die Welt› oder ‹Focus› oder andere Bedienstete der ‹Herren des Wörterbuchs›, uns zum einen klar machen möchte, daß unser Wissen direkt aus der uns umgebenden Dingwelt entspringt und die Agentien, die alles, wirklich alles bestimmen, in unserer biologischen Körperlichkeit, in den Genen liegen, und daß zum anderen der ökonomistische Weltzugang (Geld, Geiz, Wettbewerb, Markt) der (auch und gerade biologisch gesehen) einzig ‹natürliche› ist.

Tja, und in dieser großen Zeit («Ich bin doch nicht blöd!») kommt da seit 20 Jahren eine Gruppe von Knallköpfen daher und erzählt, Erkenntnis werde sozial hergestellt. Und nicht nur das, diese Narren sagen auch noch, Informationen per se gebe es nicht, sondern nur je beliebige Zeiger, die in je bestimmten sozialen Räumen für Informationen gehalten würden. Tja, ist schon klar, daß das keiner wissen will. Keiner?


‹Sozialer Konstruktivismus›

Ja, das überrascht mich dann doch, wenn hin und wieder eine freundliche Mail in das Postfach der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› flattert, in der die Frage gestellt wird, was ‹Sozialer Konstruktivismus› eigentlich sei. Nun, das ist leicht und schnell gesagt. ‹Sozialer Konstruktivismus› ist das, was ‹Soziale Konstruktivisten› tun! Ja, und was tun die, was machen die, womit beschäftigt sich diese bald aussterbende Spezies? Nun, auch das ist leicht und schnell gesagt:

Wenn ‹Soziale Konstruktivisten› vermuten, daß Erkenntnisse und Informationen, kurz, daß die kulturelle Wirklichkeit, in der wir zu leben haben, nicht einfach ‹natürlich› da ist, sondern hergestellt wird, dann ist es ihre schönste Aufgabe, diese Wirklichkeit zu betrachten und zu beschreiben. ‹Soziale Konstruktivisten› versuchen also, das äußere Antlitz einer Kultur zu prüfen, deswegen freuen sie sich, wenn sie selbst als Kulturphysiognomen und ihre Arbeit als Kulturphysiognomik bezeichnet wird.

Sehr viele Traktate in unserem ‹Skepsis-Reservat› beschäftigen sich mit Phänomenen unserer postmodernen Kultur, wobei naturgemäß die ‹spektaklistischen Auswüchse› in TV und Schmierlappenpresse eine angemessene Berücksichtigung finden. Aber auch psychologische Phänomene wie Meinen, Urteilen oder Geschlechtszugehörigkeit liegen in unserem Aufmerksamkeitsbereich.

Ich habe der Einsenderin der oben genannten Mail an einem einzigen Beispiel zu zeigen versucht, wie spannend eine sozial-konstruktivistische Sichtweise auf diese Welt sein kann. Gucken wir uns kurz diese beiden Begriffe an: Signifikat und Signifikant. Unter einem Signifikat versteht man gemeinhin die Inhaltsseite eines sprachlichen Zeichens, also das, was mit diesem Zeichen gemeint ist, auf was es verweisen soll. Und unter einem Signifikant versteht man die Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens, den Namen, das Etikett, das gewählt wurde, um auf die Inhaltsseite des Zeichens, das Signifikat zu verweisen. Alles klar? Sonst lesen Sie Albertine Devilders Marginalie Nr. 1 über Deskriptive Sprache, Textualität und Relativismus.


‹Die Philosophie des Als ob› [1] Gerne erinnere ich hier an das wunderbare Werk von Hans Vaihinger (1920): Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. 5. und 6. Auflage. Leipzig: Verlag von Felix Meiner. Ich habe schon so lange vor, dieses spannende Buch wieder einmal in Ruhe zu lesen. Ich werde darüber berichten.

Wenn wir uns nun den weiten Weg betrachten, den unsere Kultur zurückgelegt hat, von der Romantik zu Anfang des 19. Jahrhunderts über die etwa Mitte des 19. Jahrhunderts beginnende Moderne bis hin zur etwa um 1970 startenden Postmoderne, dann sehen wir, daß es in der Romantik ein ethisches Anliegen war, Signifikat und Signifikant eng beieinander zu halten, daß in der Moderne dieses Beieinanderseinsollen nicht mehr ethisch begründet wurde, sondern sich aus Sachzwängen heraus eben ergab oder auch nicht, während in der Postmoderne Leute, die Herausforderungen annehmen und sich dem Wettbewerb stellen, ganz offen, unethisch und zynisch täglich daran basteln, Signifikat und Signifikant so weit wie möglich auseinander zu bringen.

Nun, jeder weiß, daß es zu allen Zeiten eine Hauptaufgabe der Politik ist und war, das eine zu versprechen und genau das andere, also das Gegenteil des einen, zu tun. Ja, wir können sagen, daß es die genuine Aufgabe aller Politiker zu allen Zeiten war, Signifikat und Signifikant auseinander zu bringen und Menschen für dumm zu verkaufen. Interessant ist, daß sich heute nicht nur viele Leute, vielleicht deswegen, von der Politik abwenden, sondern auch viele gerade sie als Vorbild nehmen. Ja, heute kann es passieren, daß junge Leute auf eine Frage antworten: «Möchtest Du eine ehrliche oder eine politische Antwort?» Sie kennen die Regeln.

Was sagte der ganz wunderbare Sébastien Roch Nicolas Chamfort (1741-1794)? «Um sich eine richtige Anschauung vom Wesen der Dinge zu bilden, muß man jedes Wort in der dem allgemeinen Gebrauch entgegengesetzten Bedeutung verstehen. ‹Menschenfeind› zum Beispiel heißt ‹Menschenfreund›; ‹schlechter Franzose› soviel wie ein ‹guter Bürger›, der seine Stimme gegen gewisse abscheuliche Mißbräuche erhebt; ‹Philosoph› ein ‹gradliniger Mensch›, der weiß, daß zweimal zwei vier ist, usw [2] Nicolas Chamfort (1987): Ein Wald voller Diebe. Maximen, Charaktere, Anekdoten. Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Band 31. Nördlingen: Franz Greno. Seite 70. Dieses Zitat steht als Motto vor dem schönen Traktat ‹Die Lehre vom Gegenteil› von Albertine Devilder, Henriette Orheim und Lisa Blausonne.

Schauen wir uns nur kurz an, welchen Fragen eine kulturphysiognomische Untersuchung zur Wirklichkeitskonstruktion in verschiedenen sozialen Räumen nachgehen könnte:
Die Beispiele sind mit Absicht aus ganz verschiedenen Bereichen gewählt. Denn in allen fünf herbei gezauberten sozialen Räumen gilt das Primat des Politischen. Und eine Wirklichkeitsprüfung kann zeigen, wie das im Namen, im Zeichen, im Wort behauptete und versprochene mit der ‹Wirklichkeit› nichts zu tun hat.

Deklinieren Sie selbst die obigen Beispiele, lieber Leser und liebe Leserin, und verwenden Sie dabei immer die beiden Wörtchen ‹Als Ob›: Bei einer Gesundheitsreform wird so getan, als ob ‹die› Gesundheit reformiert würde, etc. etc.

Worauf ich hinaus will: Die Postmoderne ist das grandiose Zeitalter des ‹Als-Ob›! Und ‹Soziale Konstruktivisten› gehören zu den wenigen verbliebenen Leuten, die diesem ‹Als ob› nachspüren. Die anderen, die große Mehrheit, die kompakte Majorität [3] In Henrik Ibsens Schauspiel «Ein Volksfeind» von 1882 ruft im vierten Akt der von seinen Mitbürgern als ‹Volksfeind› bezeichnete Badearzt Doktor Thomas Stockmann eben diesen seinen Mitbürgern zu: «Denn das ist ja die große Entdeckung, die ich gestern gemacht habe. (Mit erhobener Stimme) Der gefährlichste Feind der Wahrheit und Freiheit bei uns - das ist die kompakte Majorität. Jawohl, die verfluchte, kompakte, liberale Majorität, - die ist es! Jetzt wißt Ihr's!» (Ungeheurer Lärm im Saal.), hat anderes zu tun, sie muß mithalten. Was sagt Chamfort: «Es ist leicht erklärlich, daß die Unredlichen und selbst die Dummköpfe in der Welt immer besser fortkommen als die ehrlichen und die geistreichen Leute. Den Unredlichen und Dummköpfen fällt es leichter, mit dem Ton der Welt Schritt zu halten, der im allgemeinen aus Unredlichkeit und Dummheit besteht [4] Nicolas Chamfort (1987): Ein Wald voller Diebe. A.a.O., Seite 20.

Ok, das ist vielleicht etwas deutlich ausgedrückt. Aber klar wird, daß die Kulturinsassen in der Postmoderne ganz easy mit ‹dem Ton der Welt Schritt halten› können, indem sie bei möglichst vielen Gelegenheiten, ja selbst in persönlichen Beziehungen, ‹politisch› argumentieren. Der Ton der Welt verlangt nach schicken Signifikanten, die anmutig verhüllen, was geplant ist und getan werden wird. Der Ton der Postmoderne beruht auf dem Grundklang einer Philosophie des Als ob.

Sozial-konstruktivistische Wirklichkeitsprüferinnen halten mit dem Ton der Welt nicht Schritt. Sie weigern sich. Ist das nicht rührend?



Erstellt: 12. November 2006 - letzte Überarbeitung: 20. November 2006
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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