BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied vom Schweigen»
von Henriette Orheim
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Einführung

«Die Welt geht noch unter in ihrem Geschwätz.»
(Michel de Montaigne)

In unserer final-kapitalistischen Gesellschaft des Spektakels hat jeder Tag seine besondere Nachricht, die am nächsten oder übernächsten Tag bereits wieder vergessen ist. Unsere große Schmierlappenzeitung etwa ruft ‹Irre!›, ‹Wut!›, ‹Schock!› oder ‹Terror!› hinaus ins Land und definiert damit, was an eben diesem Tag gemeint und von den Sonnenhütern im Schau-TV gezeigt werden darf. Da wir in einer Demokratie leben, die sich einer ‹Suprematie des Unwesentlichen› beugt, dürfen alle Bürger und Bürgerinnen selbstredend bei allen unwesentlichen Nachrichten mitmachen und ihre Meinungen insbesondere zu allem ‹Unerklärlichen› – wie etwa einem Amoklauf oder einer anderen ‹Naturkatastrophe› – äußern. Die wesentlichen Nachrichten allerdings werden von den ‹Herren des Wörterbuchs› vorgeschrieben, da diese definieren, was als wirklich zu gelten hat.

In der ‹New School› der Identitätsbildung hat das spätmoderne ‹Ich› heute gefälligst einem ‹Neo-Individualliberalismus› zu frönen und ausschließlich an sich selbst zu denken. Daß es sich damit selbst am meisten schadet, kann es nicht erfassen, da es keinen Zugang mehr zu den Texten hat, die es als Person ausmachen. Die erwünscht erfreuliche Konsequenz für unsere Gesellschaft ist ein Abschied vom ‹homo politicus›, ein Abschied vom Hauptwiderspruch und schließlich ein Abschied vom Staat, der nur noch als Hülle gilt für alle diejenigen, die sich an ihm bereichern können und dürfen.

Dabei muß ein ‹Ich› heute nichts Besonderes können oder wissen, es muß einfach ‹sein›, so wie es eben ist. ‹Sei, der du bist!›, heißt dieser spätmoderne Fluch. Aber das genügt nicht, ein ‹Ich› muß sich heute mitteilen, muß seine ‹Meinung› aufsagen, muß Aufmerksamkeitsmanagement betreiben. Also muß es, wenn es nicht selbst Nachricht sein kann, wenigstens zu allfälligen Nachrichten Stellung nehmen, um eine Wichtigkeit zu erhalten. Damit nähern wir uns dem Thema dieses Traktates. Und eigentlich war diese Einführung gar nicht so lang.


Steine werfen im Internet

«Am unverständlichsten reden die Leute daher,
denen die Sprache zu nichts weiter dient
als sich verständlich zu machen.»
(Karl Kraus)

«Die meisten Menschen sprechen nicht, zitieren nur.
Man könnte ruhig fast alles, was sie sagen, in Anführungsstriche setzen;
denn es ist überkommen, nicht im Augenblick des Entstehens geboren.»
(Christian Morgenstern)

Ein ‹Ich› muß heute also klappern, um sich als ‹Ich› zu empfinden. Eingebunden in soziale Räume darf das Aufsagen von eben dort kulturell definierten Texten niemals aufhören. Sollte ein ‹Ich› das ‹Rattern seiner Konversationsmaschine› (sensu Berger & Luckmann) tatsächlich beenden, gilt dies als Tod des ‹Ichs›. In Chats, über Twitter, auf den diversen Selbstdarstellungsseiten sowie mit Hilfe von Kommentaren in allen möglichen Internet-Foren lassen sich die vielen bedeutsamen ‹Ichs› in einer Weise aus, die keine Unterbrechung dulden kann. Der Textfaden der Entäußerung darf niemals abreißen, da beißt die Maus keinen Faden ab.

Schauen wir in ein beliebiges Forum, wie wir das bei der Ankündigung von Apples iPad getan haben. Der Vorgang ist schlicht: Irgendetwas geschieht, irgendeine ‹Meldung›, eine vermeintliche ‹Nachricht›, erscheint auf der Internetpräsenz irgendeines Mediums, und schon nach einer Stunde haben sich hunderte meinungsstarke ‹Ichs› eingeloggt und ihre ungefragten und unerbetenen Kommentare abgegeben. Die dabei geäußerten Meinungen lassen sich in ganz wenige inhaltliche Gruppen einteilen, meist gibt es sogar nur ein Pro oder Contra, Wahr oder Falsch. Unser Bildungssystem ist bei der Vermittlung einer zweiwertigen Logik stecken geblieben. Und was wir dann im einzelnen lesen, das sind die immer gleichen Wirklichkeitsbehauptungen, Ahnungslosigkeiten, Dummheiten, Verleumdungen, Heterostereotypien, Vorurteile und Verwirrtheiten, die – auch noch in einer Pose der Empörung – als ‹Fakten› ausgegeben werden. Wir können dies auch als das allgemeine Steinewerfen im Internet bezeichnen. Wir schauen uns das Niveau hier aber nicht näher an. Es ist uns zu dumm. Und zu schmutzig.

Nur zwei Punkte noch: Ein Hauptargument in allen Foren ist die Beschreibung eines persönlichen Erlebnisses mit irgendeinem Gegenstand oder einer Angelegenheit, welche sich während der Beschreibung zu einem Faktum auswächst. Die ‹Dominanz konkreter Ereignisse über abstrakte Grundraten› und die Logik der ‹Ein-Personen-Statistik› («Also ich kenne einen, der hat ...») feiert hier permanent fröhliche Urständ – und die Beteiligten sind so ungebildet und so besoffen von ihrem ‹Ich›, daß sie diesen Unsinn nicht mitkriegen. Und daß das Niveau dieser Steinwürfe – abzulesen an Rechtschreibung und Grammatik – von Medium zu Medium variiert und dennoch die eigentliche Bildungskatastrophe in unserem Land hier am deutlichsten abzulesen wäre, dürfte uns nicht verwundern.

Wozu also rattert die Konversationsmaschine? Warum werfen so viele ‹Ichs› im Internet – getarnt mit der Anonymität eines Kunstnamens – mit Steinen auf Objekte und Personen, von denen sie nichts wissen? Warum entäußern sich diese ‹Ichs› zu Themen, von denen sie nichts verstehen? Ganz einfach: Sie glauben tatsächlich, ihre Meinung habe eine Bedeutung. Das ist schon sehr lustig! Aber der eigentliche Grund ist: Sie können nicht schweigen.


Abschied vom Schweigen

«Zersetzende Macht des Gesprächs.
Man begreift, warum das Meditieren
wie die Tat Schweigen braucht.»
(Emile Michel Cioran)

Im Ernst: Schweigen? Wie soll das denn gehen? Können wir uns einen ‹wichtigen› Menschen vorstellen, der schweigt? Nein. Denn jede ‹Nachricht› ist eine Gelegenheit der Regierung. Also muß jetzt was gesagt werden. Können wir uns einen ‹unwichtigen› Menschen vorstellen, der schweigt? Schwerlich. Denn ihm ist gesagt worden, er sei ‹wichtig›. Also muß jetzt was gesagt werden. Was nun?

Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir bedenken, daß die oben genannten Forenschreiber und Steinewerfer ausnahmslos Menschen mit einem ‹gesunden› Menschenverstand sind. Das heißt, sie leben eingeschlossen in einem kulturell definierten ‹Faktenkerker›, aus dem heraus sie uns immer wieder ihr unendliches und unveränderliches Nichtbescheidwissen zurufen. Wieso?

Albertine Devilder sagt es so: «Die soziale Konstruktion der Personen funktioniert. Wie Marionetten sagen die Menschen mit einem ‹gesunden› Menschenverstand in ihrem ‹abschließenden Vokabular› (Richard Rorty) die Fakten auf, die jetzt gesagt werden müssen. Was wir bei Menschen im Faktenkerker niemals beobachten können, ist eine Erwägungskultur, eine Behutsamkeit, eine Nachdenklichkeit, ein zögerliches Tasten, ein Staunen über Unbegreifliches, oder gar eine Trauer, daß wir mit unserer Sprache die Schönheiten dieser Welt niemals treffen können.»

Und was wir bei den heutigen Kulturinsassen niemals beobachten können, ist ein Schweigen. Alle vertrauen der Möglichkeit, mit dem von ihnen Gesagten auf etwas Wesentliches da draußen in der Welt zeigen zu können. Wer als Kind schon vor dem Lärm der Welt die Ohren verschließt und nichts mehr hören will, gilt schnell als ‹Autist›, und wer in späterem Alter zum Schweigen neigt, der wird alsbald mit einem geeigneten psychiatrischen Etikett beklebt werden. Wer schweigt? Niemand. Denn zum Schweigen gehen wir in ein einwöchiges ‹Schweige-Retreat›, um dann zu Hause um so besser wieder an der allgemeinen Zentralrede teilnehmen zu können. Wer schweigt also? Niemand. Abschied vom Schweigen? Könnte sein.


Finale: Das heilige Schweigen

Schauen wir auf einige Dichter und Denker, die dem Schweigen noch einen angemessenen Platz einräumten! Freuen wir uns darüber, daß das Schweigen mal eine Bedeutung, ja, gar einen Wert hatte! Bedenken wir die großartigen Versprechungen des Schweigens!

Beginnen wir mit Søren Kierkegaard (1813-1855):
«Schaffe Schweigen!! Ach, alles lärmt, und wie heißes Getränk das Blut bekanntlich in Wallung bringt, so ist in unserer Zeit jedes einzelne, selbst das unbedeutendste Unternehmen und jede einzelne, selbst die nichts sagendste Mitteilung bloß darauf berechnet, die Sinne zu reizen oder die Masse, die Menge, das Publikum und den Lärm zu erregen! Der Mensch, dieser gewitzigte Kopf, sinnt fast Tag und Nacht darüber nach, wie er zur Verstärkung des Lärms immer neue Mittel erfinden und mit größtmöglicher Hast das Geräusch und das leere Gerede möglichst überallhin verbreiten kann.
Ja, was man auf solche Weise erreicht, ist wohl bald das Umgekehrte: die Mitteilung ist an Bedeutungsfülle wohl bald auf den niedrigsten Stand gebracht, und gleichzeitig haben umgekehrt die Mittel der Mitteilung in Richtung auf eilige und alles überflutende Ausbreitung wohl das Höchstmaß erreicht; denn was wird wohl hastiger in Umlauf gebracht als das Geschwätz! Und anderseits -: was findet willigere Aufnahme als das Geschwätz?! – O, schaffet Schweigen!!
» [1] Søren Kierkegaard (1993): Die Leidenschaft des Religiösen. Philipp Reclam Jun. Band 7783, S. 158f.
Fragen wir Emile Michel Cioran (1911-1995):
«Ich strich aus meinem Wörterbuch Wort um Wort. Nach dem Massaker blieb ein einziger Überlebender: Einsamkeit. Ich erwachte beschenkt.»
Fragen wir Maurice Maeterlinck (1862-1949):
«Man muß nicht glauben, daß die Sprache jemals der wirklichen Mitteilung zwischen den Wesen diene. Die Worte können die Seele nur in der gleichen Weise vertreten, wie z.B. eine Ziffer im Kataloge ein Bild bezeichnet; sobald wir uns aber wirklich etwas zu sagen haben, sind wir gezwungen zu schweigen.»
Fragen wir Karl Kraus (1874-1936):
«Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!»
Schließen wir mit Botho Strauß (geb. 1944):
«Es ist alles ausgesprochen. Nehmen wir den Deckel und schließen das Gefäß unserer Rede. Du wirst sehen, wir werden unsere Schönheit wiedererlangen.»
Schweigen wir also.



Kommentare:

(27.04.2010)



(Tobias, Bochum)



Erstellt: 20. März 2010 – letzte Überarbeitung: 23. April 2010
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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