BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Pólis und Postdemokratie: Ein Nachtrag - Häme»
von Henriette Orheim & Albertine Devilder
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Einführung und Rückblick

Wir haben in unserem Sammelreferat ‹Pólis und Postdemokratie› skizziert, auf was wir uns in unserem spektaklistischen Gemeinwesen in den nächsten Jahren einzustellen haben: Unser Staat wird zur leeren Hülle werden, die sozialen Unterschiede werden noch größer und schärfer werden, die sekundäre Analphabetisierung wird weiter voran getrieben werden, eine unabhängige Wissensproduktion wird aufgegeben werden, spätmoderne Studierende werden mit sinnlosen Lernereien und Abfragereien vom Denken abgehalten werden und auf eine alberne Statistenrolle im großen Theaterstück vorbereitet, und das Theaterstück, das auf der politischen Bühne gespielt wird, der finale Kapitalismus also, dessen neoliberal-naives Programm wir bereits in einem Film von John Ford von 1939 bewundern dürfen, wird ‹alternativlos› sein, denn alle anderen gesellschaftlichen Modelle sind ja, wie es uns sogenannten Wirtschaftsjournalisten und weitere Sonnenhütern des Spektakels als Prostituierte des Kapitals täglich erklären, angeblich gescheitert. Ab und zu werden Star-Schauspieler für dieses Theaterstück gewählt oder, seltener, abgewählt, das Stück selbst aber bleibt auf dem Programm: En suite. Auf Dauer. Bis zum bitteren Ende. Bis das Theaterstück ‹Finaler Kapitalismus› also ‹abgespielt› sein wird, bis es niemand mehr sehen kann, und das nächste Stück folgen wird – das kann dauern. Und was dann?

Mit welcher Dummheit und Schamlosigkeit die Star-Schauspieler agieren, ach, das ist ja täglich von uns auszuhalten. Und die Beherrschung von Badspeak, also das Einbringen raffinierter Verunglimpfungen des politisch anders Denkenden in den Medien-Diskurs, ist eine wichtige Voraussetzung, um als Star-Schauspieler am derzeit laufenden Theaterstück mitwirken zu dürfen. Welche bösartigen Regeln dabei gelten, das führt täglich die größte Schmierlappenzeitung dieses Landes vor.

Und, das ist bedeutsam in seiner scheindemokratischen Attitüde: Jeder Kulturinsasse darf seinen Senf dazu geben. Regellos. Und vor allem: Folgenlos. Aber das begreift der Kulturinsasse nicht. Und das Wort Äußerungsethik begreift er erst recht nicht. Wozu auch. Wird doch in allen wesentlichen Medien täglich das vorgeführt, was der durchschnittliche Kulturinsasse gut beherrscht: Häme.

In diesem kleinen Nachtrag zu ‹Pólis und Postdemokratie› gehen wir also über Badspeak hinaus. Zwei Beobachtungen zum Phänomen Häme reichen aus.


Häme: Fußball

Unser Redaktionsmitglied Helmut Hansen hat uns auf die Idee gebracht. Er berichtet uns seit einiger Zeit, daß es bei Übertragungen von Fußballspielen der Bundesliga im Internet sehr interessante Wortbeiträge gibt. Zum einen folgen die Reporter einer Linie des Dauersprechens, natürlich unabhängig vom aktuellen Spielgeschehen. So als dürfe der Wörterstrom niemals abreißen. Und vor allem: Als genüge das Bild nicht sich selbst.

Zum anderen aber, und jetzt sind wir endlich im Ziel, werden die Dauer-Wort-Beiträge von einer Dimension beherrscht, die sich nur als Häme bezeichnen läßt. Schnell ein paar Beispiele:

  • Sobald eine Mannschaft Schwächen zeigt oder zu verlieren droht, wird das überbetont, es wird auf die mangelnden Fähigkeiten und Fertigkeiten der Spieler attribuiert, es wird eine Schuld im jeweiligen Trainer verortet (dessen fassungsloses Gesicht immer wieder gezeigt werden muß), und es wird Häme ausgegossen. Dabei überbieten sich die ‹Reporter› in der Konferenz in gehässigen Bemerkungen über die Qualität des vermeintlich Gesehenen, daß es eine Art ist. Kippt das Spielgeschehen, wird völlig inkonsequent und überraschend die andere Mannschaft mit Häme überzogen. Erstaunlich? Nein.
  • Spielt ein Favorit gegen eine vermeintlich schwächere Mannschaft gibt es sogleich Häme-Alarm. Setzt sich der Favorit durch, was ja zu erwarten sein sollte, wird die vermeintlich schwächere Mannschaft verspottet. Sollte jedoch diese gegen den Favoriten aufbegehren, und das mit Erfolg, werden die Häme-Kübel über den Spielern und dem Trainer des Favoriten ausgegossen. Egal, wie es kommt, ein Favorit siegt oder stürzt ab, oder ein kleines und schwaches Team siegt oder wird noch kleiner und schwächer, Häme ist immer dabei.
  • Gibt es weder einen Favoriten noch eine besonders schwache Mannschaft in einem Spiel, werden beide Mannschaften aufgrund ihrer mangelnden Fähigkeiten und Fertigkeiten mit Häme überzogen und, das ist nun wirklich erstaunlich, das Spiel wird schlecht geredet. Dabei sollten die ‹Reporter› doch ihr Produkt, die Live-Übertragung mehrerer Spiele, gut und schön reden. Offensichtlich passen sich die ‹Reporter› dem vermutlich sorgfältig ausgetesteten Niveau der Zuseher an, um sich bei diesen auf der selben Häme-Bereitschaft einzuschmeicheln. Denn:
  • Live, in den Stadien, überziehen sich die Fans beider Mannschaften jeweils mit hämischen Gesängen. Um einen eher harmlosen Gesang zu wählen: ‹Wir singen Bochum, Bochum, zweite Liga, wie ist das schön, euch wieder zu sehen!›

  • Häme soll also ein bedeutsames kulturelles Moment der Jetztzeit sein? Ja.


    Häme: TV

    Nur noch eine Beobachtung: In der ‹schlimmsten Lichtquelle der Welt› ist Häme tägliches Programm. Schon seit über zehn Jahren werden Sendungen wie Casting-Shows veranstaltet, um über Menschen Häme ausgießen zu dürfen. Raus bist Du! Abgelehnt! Die Tränen fließen! Und die Zuschauer weiden sich am Leid der Anderen. Neben diesen Casting-Shows gibt es etliche weitere Formate, in denen es um die Vorführung und Verspottung von Mitmenschen geht. Und um Schadenfreude. Den Hauptverantwortlichen dafür möchten wir nicht mit Namen nennen, er ist ja nur ein Symptom für die Verrohung öffentlicher Diskurse. Verantwortung trägt unsere Kultur, die es zuläßt, daß dieser Hauptverantwortliche diese Häme-Formate zeigen darf. Und Applaus bekommt. Müssen wir mehr dazu sagen?


    Was ist Häme?

    Häme, eine hämische Haltung, eine hämische Freude an irgendeinem Mangel oder Fehler eines Mitmenschen, ist als Haltung weit verbreitet. Bevor wir erklären, warum Häme so gut in unsere Zeit passt, schauen wir uns als radikal-skeptische Nominalisten den Konnotationshof dieses Wortes noch etwas näher an: Eine hämische Bemerkung ist boshaft, höhnisch, gehässig, gemein und voller Schadenfreude. Es ist offensichtlich schön, wenn jemand anderes eine vermeintliche Schwäche zeigt und man ihn genau deswegen verspotten darf. Oder anders: Es ist derzeit schön, ein Opfer vor sich zu haben. Warum nur?


    Das Zeitalter des ‹Ichs› als Zeitalter der Häme

    Die Bochumer Arbeitsgruppe schreibt seit Jahren essentielle Beiträge zum Zeitalter des ‹Ichs›, denn, wahrlich, so viel ‹Ich› war nie. Wer zu Anfang dieses Jahrtausends kein ‹Ich› präsentiert, hat schlechte Karten im derzeit laufenden Theaterstück.

    Und natürlich müssen sich die unterschiedlichen (und doch so ähnlichen ‹Ichlinge›) voneinander abgrenzen, in den Wettbewerb treten, um die große Aufgabe, die unser Theaterstück zeigt, erfüllen zu können: ‹Wirtschaft, Wettbewerb, Wachstum, Wohlstand!› Sehr wichtig ist es, daß Leute im Auftrag des Staates bereits bei zehnjährigen Kindern möglichst ein für alle Mal entscheiden, ob sie später an der großen Aufgabe des Theaterstücks mitwirken dürfen, oder ob sie ins Prekariat verwiesen werden. Es dürfte klar sein, daß die Grenzen hier sehr eng gezogen werden müssen, an die vermeintlichen Fleischtöpfe, den vermeintlichen ‹Wohlstand› genießen, dürfen nur wenige Privilegierte. Deswegen ist es so wichtig, über erfundene Noten eine Beteiligung oder Teilhabe so früh wie möglich und so nachhaltig wie möglich zu verwehren.

    Und was bietet unser Zeitalter des ‹Ichs› den Abgelehnten? Häme, Spott und Schadenfreude. Bethchen B. und Edna Lemgo sagen dazu:
    «Die Gesellschaft des Spektakels braucht Shows, in denen die Millionen Entrechteten, die am Rand stehenden, die Hoffnungslosen, die Ausgegrenzten, die sekundären Analphabeten, denen man ihre Sprache längst geraubt hat, […] sehen und erleben, wie jemand, ein anderer Mensch, abgelehnt wird, wie diesem eine Abfuhr erteilt wird. Die Vorführung des öffentlichen Scheiterns von Tausenden besänftigt die gescheiterten Zusehenden. Sie sehen vor allem eines: Denen geht es nicht besser wie mir. So bleiben sie in ihrem geistigen und materiellen Elend festgeklemmt.»
    Doch die stellvertretende Ablehnung alleine reicht nicht. All die Zurückgewiesenen dürfen die anderen Zurückgewiesenen verspotten. Ohne Mitgefühl. Ohne ein Bedauern. Ohne ein Einfühlungsvermögen in deren Lage. Ohne ein Verständnis. Man muß nur einmal die von Kameras immer wieder eingeblendeten Gesichter der Zuschauer dieser Ablehnungs- und Verspottungsveranstaltungen studieren, und man wird erschrecken. Da sitzt das Prekariat und feixt. Es ignoriert nicht nur des Anderen Leid, es erfreut sich daran. Daß sie damit sich selbst treffen, daß sie buchstäblich sich selbst auslachen, sehen sie nicht und spüren sie nicht. Das ist das Erstaunlichste an der gegenwärtigen Häme-Kultur. Der Token, das Symbol, die leere Hülle des vermeintlichen Programms und der Aufgabe, die in unserem Dauer-Theaterstück vermeintlich gelöst werden soll, ‹Wirtschaft, Wettbewerb, Wachstum, Wohlstand!›, ist von den ‹Herren des Wörterbuchs› so perfekt gewählt, daß die sekundär Analphabetisierten sprachlos und gefühllos geworden sind. Verblödung ist Gemeingut geworden. Deswegen darf auch ein jeder ein ‹Ich› haben. Denn dieses ‹Ich› zeigt seine Potenz niemals in einem Aufbegehren gegen das Dauer-Theaterstück. Die wenigen, die aufbegehren, die protestieren, die das Stück nicht mehr sehen können, sind leicht auszugrenzen, sind nicht ernst zu nehmen.

    Wir sehen nun, wie wichtig in der postdemokratischen Spätmoderne die Vertreibung von Empathie, Mitleid und damit auch Hilfsbereitschaft aus den Köpfen der Kulturinsassen ist. Jeder sei des Anderen Feind! Jeder sei für sich selbst verantwortlich! Jeder muß doch selbst am besten wissen, was er tut! Stellen wir uns vor, es gebe so etwas wie eine auf einem Einfühlungsvermögen gründende Solidarität, ja, es gäbe gar so etwas wie Schonung und Gnade. Um Gottes Willen! Grauenhaft! Alarm! Das wäre zum einen unchristlich, denn Gott hat die Menschen nun mal nicht gleich erschaffen, und es widerspräche der Biologie, denn nur die Besten überleben und pflanzen sich fort. Sagt man.

    So erleben wir also in den Schmutzmedien der Spätmoderne – und im Umgang der Kulturinsassen untereinander – das Ausleben von Häme und Schadenfreude. Das soll so sein. Das ist sehr bedeutend, ja notwendig für unser En-Suite-Theaterstück, in dem und mit dem wir leben.

    Finis.



    Erstellt: 11. Juni 2012 – letzte Überarbeitung: 13. Juni 2012.
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